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“Tolle Erinnerungen sind die Qualen wert”: Wie 2 Rockumentaries entstanden

Ein ganz besonderes Jahr, in welchem wir gezwungenermaßen Konzerte und Festivals hauptsächlich digital aus „zweiter Hand“ genießen konnten. Vielen ist es vielleicht nicht bewusst, wie viel Arbeit dahinter steckt, einen amtlichen Live-Stream oder eine Dokumentation hinzubiegen. Hier die Geschichte zweier Rock-Dokumentarfilme alias Rockumentaries, deren Fertigstellung mehr als vier Jahre gedauert hat:

Die finnischen Folk-Metal-Legenden KORPIKLAANI und der Filmemacher KIMMO KUUSNIEMI unternahmen eine ausgedehnte und hektische Tournee durch Russland, auf welcher sie von St. Petersburg nach Sibirien und wieder retour reisten. Auf einer anschließenden Tournee – diesmal nach Japan mit der finnischen Metal-Legende WALTARI – konzentrierten sie sich eher auf japanische Lebensart und Geschichte. Der Filmemacher Kimmo Kuusniemi begleitete die Band und veröffentlicht nun Online die beiden Rock-Dokumentarfilme MADE IN RUSSIA (2016) und LIVE IN JAPAN (2017).

Im Folgenden gibt uns Kimmo Kuusniemi einen besonderen Einblick in die harte Arbeit, die hinter seinen beiden Dokumentarfilmen steckt, und warum diese Pandemie für ihn absurderweise eine positive Wendung nahm. Beide Filme sind jetzt als Video-on-Demand auf diesen Websites erhältlich:

MADE IN RUSSIA (39min 22sec)
– VIDEO ON DEMAND LINK: https://vimeo.com/ondemand/madeinrussia
– MADE IN RUSSIA HOME PAGE: www.madeinrussia.uk

LIVE IN JAPAN (31min 22sec)
– VIDEO ON DEMAND LINK: https://vimeo.com/ondemand/liveinjapan
– LIVE IN JAPAN HOME PAGE: www.liveinjapan.co.uk

UNERBITTLICHE 4 LANGE JAHRE

Mit diesen Dokumentarfilmen habe ich mehrere Regeln des professionellen Filmemachens gebrochen.

REGELN FÜR FILMEMACHER: Die erste Regel: „Lass dich nie auf Filme ein, die kein Budget haben“.
Mir war noch nicht klar, welche verrückte Reise auf mich zukam, als ich Jonne 2016 im Garten meines Bruders traf. Jonne fragte mich, ob ich einen Dokumentarfilm über Korpiklaani drehen wolle. Als ich hörte, dass Korpiklaani eine lange, ausgedehnte Tournee durch Russland und Sibirien machen wollte, war ich bereits gekauft. Es gab kein Budget dafür, also nach Regel Nummer eins hätte ich die Finger davon lassen sollen. Was ich natürlich nicht tat, da die Perspektive eines abenteuerlichen Roadtrips die Vernunft überwältigte, was ein häufiges Problem bei kreativen Menschen ist 🙂

DIE RUSSLAND / SIBIRIEN TOUR

Was Korpiklaanis ausgedehnte Russland/Sibirien-Reise betrifft, so wusste ich sofort, dass dies einzigartig werden würde. Ich habe die Welt ausgiebig bereist, um Filme zu drehen, aber diese Tour war völlig anders als das, was ich bisher erlebt hatte. Aufgrund der unerbittlichen Zeitpläne zwangsläufig dauernd unterwegs in Flugzeugen, Zügen und Autos war ich dazu gezwungen, die Filmausrüstung und die Aufnahmetechniken ständig zu überdenken. Dies erwies sich als wahrliches Glücksspiel, das sich jedoch auszahlte, da sich die Optik und der Stil des Dokumentarfilms dadurch zu etwas entwickelte, was man noch nie zuvor gesehen hat.

NEUE TECHNOLOGIE

Die jüngste Entwicklung in der Kameratechnologie hat die Grenzen des Filmemachens wirklich sehr stark aufgelockert. Jetzt kann ich Dinge tun, von denen ich vor 10 Jahren geträumt habe! Meine Kamera auf einer kardanischen Aufhängung (Gimbal) auf einer Stange erlaubte es mir, aus den ungewöhnlichsten Winkeln um die Band und unter dem Publikum zu filmen, und es sah ziemlich atemberaubend aus.
Eine der aufregendsten neuen Technologien, die ich in Russland verwendete, war das Facebook-Live-Streaming.
Es war wirklich berauschend, die Hunderten von Gleichgesinnten, all die Herzen und Emoticons zu sehen, die während der Dreharbeiten über den Bildschirm flogen. Im Laufe der Jahre habe ich alle möglichen Filmtechniken genutzt, die es gibt, aber das Facebook-Streaming war etwas völlig Neues. Ich konnte die sofortige Reaktion des Publikums auf der ganzen Welt erhalten, was mich zum Nachdenken brachte, wie ich dies in Japan besser nutzen könnte.

PERSÖNLICHE HIGHLIGHTS

Die Begegnung mit dem Volk der Nanai war einer der vielen Höhepunkte der Reise durch Sibirien. Auf einem Skidoo bei -30 C durch sibirische Landschaften zu fahren, die Geschichten über die alten Felszeichnungen am gefrorenen Fluss Amur zu hören, gefrorenen rohen Fisch mit Wodka zu essen und gleichzeitig zu versuchen, so viel wie möglich zu filmen, bevor die Kameras zufroren, all das war ein unvergessliches Erlebnis.

CROWDFUNDING LEKTION 1

Nachdem ich erfolglos versucht hatte, u.a. das Plattenlabel zur Finanzierung des Films zu bewegen, sah ich nur noch die Möglichkeit, Crowdfunding zu versuchen. Ich hatte dies noch nie zuvor getan, und selbst das klang aufregend. Die Band wollte das Risiko von Crowdfunding nicht eingehen, also beschloss ich, dass ich das alles selbst übernehmen würde.

Also brach ich die zweite wichtige REGEL DES FILMEMACHENS: „Gehe niemals ein persönliches Risiko ein, einen Film zu finanzieren“.
Eugene (der Koproduzent) und ich machten eine sehr umfangreiche Werbekampagne für diese Dokumentarfilme. Als die Crowdfunding-Werbung zu Ende ging, stellten wir fest, dass das gesammelte Geld nicht einmal die Arbeit und die Zeit abdeckte, die wir in die Crowdfunding-Werbung gesteckt hatten. Wir bekamen nicht das Geld, um den Film fertigzustellen, aber stattdessen fanden wir einige sehr loyale und wohlwollende Crowdfunder, die ebenso überzeugt von diesen Filmen waren wie wir. Nicht alles lässt sich in Geld messen.

 

LIVE IN JAPAN DOKUMENTARFILM

In der Vergangenheit hatte ich einige kommerzielle Filme für den japanischen Markt gedreht, das Land aber noch nie besucht. Japan ist ein sehr interessanter Widerspruch von industrieller Hochtechnologie in perfekter Harmonie mit den alten Traditionen. Zwischen den Auftritten versuchten ich und Tuomas Rounakari (Korpiklaani-Geiger), so viel wie möglich von der alten traditionellen Seite Japans zu sehen. Eine großartige Sache, die sich durch diese Dokumentarfilme ergab – ich habe Tuomas kennengelernt. Wir sind Gleichgesinnte und arbeiten bereits an einem neuen Projekt namens „SAMPO“, das Musik und Mythen verbindet. Mehr dazu in Kürze.

NOCH MEHR FILMEMACHERREGELN GEBROCHEN

Während der Nachbearbeitung von „Live in Russia“ ging die Band in Japan auf Tournee, und es war geplant, dass ich die Band erneut begleite, um einen weiteren Dokumentarfilm zu drehen. Japan war schon immer auf der Top-Ten-Liste meiner Reiseziele, die ich besuchen wollte. Ich habe schon früher kommerzielle Filme für japanische Märkte gedreht, hatte aber nie Gelegenheit, Japan zu besuchen. Das war also sehr verlockend.

REGELN FÜR DEN FILMEMACHER: „Mach nie wieder den gleichen Fehler“.
Wieder einmal habe ich die erste Regel des Filmemachens gebrochen: „Lass dich nie mit Filmen ein, die kein Budget haben.“ Jetzt habe ich es also zweimal in einem Projekt getan. Wie mit vereinbart, stellte ich wieder ein Crowdfunding-Projekt für Japan auf die Beine. Gerade als die Kampagne online ging, war ich gezwungen, sie aus höchst bizarren Gründen abzusagen.
Allen Widrigkeiten zum Trotz bin ich trotzdem mit Korpiklaani und Waltari in Japan auf Tournee gegangen. In Osaka traf ich auch Piotr von der polnischen Death Metal-Band VADER. Das letzte Mal hatten wir uns vor 25 Jahren in Polen getroffen, als ich ihr erstes Musikvideo für MTV Europe drehte.

CROWDFUNDING LEKTION 2

Nach meiner erfolgreichen „Made in Russia“-Filmreise war ich sehr daran interessiert zu sehen, wie ich die neuen Kameratechniken, die ich dort verwendet hatte (Gimbal, Live-Streaming), weiter verbessern könnte.
Eine Live-Dokumentation als sozialtechnisches Experiment: Ich gründete für die Crowdfunder eine private Facebook-Gruppe, in der ich auf unserer Reise durch Japan Live-Videoclips posten konnte. Die Crowdfunder konnten mir Fragen für die Band schicken und ich konnte die Bandmitglieder sofort auf der Facebook-Seite antworten lassen. Also eine wirklich interaktive Dokumentation! Die Crowdfunder konnten so also tatsächlich das Ergebnis der Dokumentation beeinflussen und im wahrsten Sinn des Wortes ein Teil davon sein.

TECHNOLOGIE

One Man Multicam: Ich hatte auch mehr Kameras (GoPros) dabei, so dass ich eine One-Man-Multikamera-Aufnahme der Live-Auftritte machen konnte. Diese Ein-Mann-Kameratechnik funktionierte hervorragend und es war in vielerlei Hinsicht viel einfacher und effizienter als die Arbeit mit einer großen Crew. Die Endergebnisse sprechen für sich selbst.

360 Kamera: Die andere neue Technologie, die ich in Japan verwendete, war eine 360-Kamera. Ich benutzte sie wie eine normale Kamera in einigen meiner Kommentarabschnitte und während ich mit der Band unterwegs war. Da die Kamera alles um einen herum in 360 Grad aufzeichnet, kann man die Kamerabewegungen später im Schnitt bearbeiten… So wirst du nie wieder einen Moment verpassen! Ich habe auch einige Songs gefilmt und ein verrücktes Video von einem Song mit unglaublichen 360-Effekten gemacht. In nur 3 Jahren hat sich die 360-Technologie sprunghaft weiterentwickelt: Die neue 360-Kamera, die ich jetzt benutze, hat eine erstaunliche Auflösung und hat mir eine völlig neue Art des Filmemachens ermöglicht.
Der Einsatz neuer Technologie und dieser Kameras ermöglichte es mir, all das selbst zu filmen, wofür normalerweise eine Crew von mindestens 6 bis 10 Personen erforderlich wäre. Natürlich gibt mir meine jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit großen Crews und diversen Bands einen Vorteil bei der Anwendung dieser neuen Technologie.

POST PRODUCTION / EDITING

Dann begann die harte Arbeit der Bearbeitung all dieses Filmmaterials. Ich verbrachte viel Zeit damit, den Russlandfilm in eine lose dreistündige Version zu schneiden. Gleichzeitig versuchte ich vergeblich, zusätzliche Finanzierung durch Sponsoren usw. zu finden. An diesem Punkt musste ich aufhören, da ich bereits alle meine Ersparnisse aufgebraucht hatte und an kommerziellen Filmen arbeiten musste, um über die Runden zu kommen.

DOKUMENTARFILME SIND ALLES VERZEHRENDE BESTIEN

Dann sprang die Cutterin/Musikerin Sophia LA ein, um mir aus der Patsche zu helfen.
Sophia war von dem Material wirklich begeistert und wollte meine dreistündige Version auf den endgültigen Dokumentarfilm trimmen. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Schnitt und leistete dabei eine fantastisch brillante Arbeit, aber der Film war immer noch in seiner ersten fertigen Version, die zwei Stunden und 47 Minuten lang war. Auch bei der Arbeit mit dem Film hatte sie ihre Grenzen erreicht.

MADE IN RUSSIA war nun in einer langen Version fertig und konnte den Crowdfundern gezeigt werden, denen er so gut gefiel, dass einige von ihnen auch bereit waren zu spenden, damit wir mit der Arbeit an dem japanischen Film beginnen konnten. Das gab uns den dringend benötigten moralischen Auftrieb, um „LIVE IN JAPAN“ zu bearbeiten.

FILMVERÖFFENTLICHUNG: GERETTET DURCH COVID-19

Es ist sehr interessant, dass ich 2017, in der Zeit vor Covid, schon in Japan genau das gemacht habe, was Covid 19 anderen Filmemachern aufgezwungen hat: Live-Streaming und Interaktion…
Für mich ist das der beste Weg, die Auftritte einer Band zu filmen, sie aufzunehmen und anschließend schnell zu schneiden und dann als besonderes Event zu veröffentlichen. Man hat eine viel bessere Kontrolle über die Qualität und das Endergebnis ist viel ansprechender als ein Streaming mit allen möglichen technischen Schwierigkeiten. Die Leute zeigen bereits Anzeichen von Langeweile gegenüber gewöhnlichen Live-Streams, es ist daher mehr notwendig.
Ich habe einige Ideen für die Zukunft des Filmens, während ich versuche, der Menge einen Schritt voraus zu sein 🙂

WAS IST VOD?

Nachdem die Bearbeitung der Dokumentationen abgeschlossen ist, ergibt sich das nächste Problem, wie sich diese Filme veröffentlichen lassen.
Alle meine Dokumentarfilme wurden weltweit über meinen Internationalen TV-Vertrieb veröffentlicht. Der Vertrieb war grundsätzlich an diesen Filmen interessiert, bezweifelte aber das Interesse der internationalen Fernsehgesellschaften, da Korpiklaani nicht Metallica oder Iron Maiden sind. In den 4 Jahren, in denen diese Filme fertiggestellt wurden, sind DVDs plötzlich ebenfalls gestorben.
Dann kam COVID-19 und veränderte alles. Das Film- und Musikgeschäft kam plötzlich zum Erliegen. Es war wieder an der Zeit, zu diesen Filmen zurückzukehren und sie endlich herauszubringen. Ich verkürzte das „Made in Russia“ auf 39min. Ich richtete die Websites ein, und wir waren bereit.
Nun gibt es die neue aufregende Möglichkeit, Dokumentarfilme zu veröffentlichen auf einem eigenen VOD-Kanal (Video on Demand). Nicht dasselbe wie bei Amazon oder Netflix, aber du bist dein eigener Herr.

MADE IN RUSSIA (39min 22sec)
– VIDEO ON DEMAND LINK: https://vimeo.com/ondemand/madeinrussia
– MADE IN RUSSIA HOME PAGE: www.madeinrussia.uk

LIVE IN JAPAN (31min 22sec)
– VIDEO ON DEMAND LINK: https://vimeo.com/ondemand/liveinjapan
– LIVE IN JAPAN HOME PAGE: www.liveinjapan.co.uk

Mehr Info über SPLIT SCREEN FILMS: www.splitscreendocs.com

SCHLUSSWORTE

Filme und Musik zu machen ist eine sehr einsame Angelegenheit; man bekommt nicht viel Unterstützung, bis man fertig ist. Wir sprechen hier von Projekten, die 4 Jahre gebraucht haben, um veröffentlicht zu werden. Die Unterstützung von Crowdfundern war also sehr wichtig und gab mir einen Grund, meine Filme fertigzustellen, während ich die ganze Zeit auf der kommerziellen Seite des Filmemachens arbeitete, um über die Runden zu kommen.

HABE ICH ETWAS AUS DIESEN PROJEKTEN GELERNT?

Nein, ich würde die gleichen Fehler noch einmal machen. Die Reise durch Russland und Sibirien hat mein Leben verändert, eine einmalige Erfahrung und etwas, das ich nie vergessen werde. Tolle Erinnerungen sind die Qualen wert.

KIMMO KUUSNIEMI – SPLITSCREEN FILMS
www.splitscreendocs.com


Über den Filmemacher:
Kimmo Kuusniemi ist ein professioneller Filmemacher und Musiker mit Sitz in Großbritannien. Er hat zahlreiche Filme gedreht, von Musikvideos bis hin zu internationalen Fernsehserien. Er arbeitet für gewöhnlich zusammen mit dem Filmemacher Eugene O’Connor, gemeinsam und getrennt voneinander haben sie z.B. mit Black Sabbath, Iron Maiden, Madonna, Rush, Red Hot Chili Peppers gearbeitet. Kimmos Band Sarcofagus, die 1978 gegründet wurde, war eine der ersten finnischen Heavy-Metal-Bands. Im Jahr 2008 drehte Kuusniemi in Koproduktion mit dem finnischen Rundfunk YLE eine internationale TV-Dokumentation über die finnische Metal-Szene: Promised Land Of Heavy Metal.

Klaudia Weber

Rücksichts- und gnadenlose Diktatorin, kniet vor mir! Anders gesagt: Chefredakteurin, Übersetzerin, Webseiten- und Anzeigenverwaltung, also "Mädchen für alles" - - - Schwerstens abhängig von Büchern (so ziemlich alles zwischen Herr der Ringe und Quantenphysik) und Musik, besonders von Metal finnischer Prägung. Weiters Malen, Zeichnen, Film, Theater... also könnt ihr mit einer vielseitigen Website rechnen. Mag.phil., zwei in 5 Jahren parallel abgeschlossene Vollstudien (English & American studies, Medienkommunikation) und stolz darauf, denn als Mädel aus einer Arbeiterfamilie in einem erzkonservativ-katholischen Land ging das nur dank Stipendium und etwas später im Leben als andere....