Wave Gotik Treffen 2009
Das größte Gothic-Treffen in der Welt, heißt es: das gesamte Stadtgebiet Leipzigs ist von dem Einfall der schwarzen Horden (21.000 Gäste) betroffen. Aber das sieht man gern – „die Schwarzen sind so gut und phantasievoll gekleidet“ murmelt mein Taxifahrer, „die sind so nett, haben so gute Manieren“ bemerkt fröhlich die Kellnerin. Da kommen sogar die Touristen aus den umliegenden Städten wie Chemnitz und Dresden extra angereist, um die schwarze Rotte fürs heimische Album zu fotografieren.
Interaktive Fotogalerie am Ende des Texts
Spannend ist das Nebeneinander von viktorianischen Nostalgikern, Vampiren, Latexfetischsten, Postpunkern, Neuheiden und Metallern. Einträchtig drängt man sich in den Straßenbahnen zusammen auf dem Weg zum nächsten Konzert oder zur nächsten Party. Ich persönlich fand die Stimmung sehr offen und kontaktfreudig. Bei aller Toleranz und Friedlichkeit und harmonischem Miteinander kommt es dann doch immer wieder zu so tiefgreifenden Diskussionen an den Straßenbahnhaltestellen während des Umsteigens wie „wer ist eigentlich ein Goth und gehören die Neuen schon dazu?“ Oder „wer ist echt in der Szene und wer tut nur so?“ Das sind, bitte, existentielle Fragen, so wie in der normalen Welt die Frage „bin ich und gibt es einen Gott?“
Die Frage nach Gott stellt man sich hier weniger, denn wenn es einen gibt, dann sagen die tausendfachen Pentagramme, Hörner, Symbole: klaro, der ist dämonisch und heißt Satan. Wobei man das nicht missverstehen darf – was in der normalen Welt möglicherweise als böse und Feind der Welt betrachtet wird, gilt hier manchem auch als böse, aber als Freund der Welt. Aber was ist normal? Schauen wir aus der normalen Welt der alltäglichen Lebensmuster auf diese Wave-Gotik-Versammlung, liegt einem zunächst die Bezeichnung „großes, dunkles Kostümfest mit viel Fetischismus“ auf der Zunge. Aber ergeht man sich bei einem Glas Met im Schatten der Bäume des Heidendorfes, wo der Schmied fleißig sein Eisen klöppelt, näher derartigem Sinnieren, könnte die normale Welt mit ihren sonnengebräunten Bodies in blümchengemusterten Gutelaunekleidern oder den in normierten Anzug-Krawatte-Businessdress angepassten Geldhäschern viel eher als Kostümierung empfunden werden. Steckt nicht hinter manchem unauffälligem, angepaßten Normalo ein heimlicher Fetischist, hinter allzu täglichem Ritualverhalten versteckte Begierden oder unterdrückte Sehnsucht nach z.B mehr Romantik in einer sonst von Kalkül und Ratio verwalteten Welt?
Es gab 190 Veranstaltungen in 4 Tagen. Da konnte ich mir nur meine persönlichen Favoriten rauspicken, wozu grandiose Konzerte in gut gefüllten Hallen von OPETH mit gut aufgelegtem Mikael „Hübsch“ Akerfeldt „hope you feel good, that means you have somebody to fuck“ und MY DYING BRIDE mit einem das Martyrium in exaltierten Posen darstellenden Aaron Stainthorpe zählten. Doch auch die weniger gut besuchten Konzerte der Außenseiter NOCTIFERIA aus Slowenien und VOLKMAR aus Australien waren sehr überzeugend – Volkmar mit dunklem, gothischen Rock, denen es in Deutschland so gut gefällt, dass sie beschlossen haben, hier erstmal zu bleiben und nun nach einem Drummer suchen, Noctiferia mit einem heftigen Metalgewitter, das rasch mehr Publikum zog und ihrem Vokalisten, der am Bühnenrand gleichzeitig als zweiter Drummer agierte. Erstaunt hatte mich das große Publikumsaufkommen bei EDEN WEINT IM GRAB, eigentlich ein Studioprojekt vom Alter-Ego Alexander Paul Blake (siehe unter Stalker: Interviews), das sich aber auf Drängen von Fans und Plattenfirma nun doch auch mal live darbot und zwar durchaus überzeugend und intensiv. Die genannten Konzerte fanden im Kohlrabizirkus statt, einer großen Halle mit schwieriger Akustik.
Auf der Parkbühne, schön im Clara-Zetkin-Park gelegen, fand ein toller Auftritt der britischen Band DIE SO FLUID statt. Bisher weniger in Deutschland bekannt, machte das Trio um die sexy Sängerin und Bassistin Grog richtig Druck und spielte kräftigen Rock mit einem Ausnahmegitarristen, den es immer wieder mal ins Psychedelische zieht. Eine Rezension über deren letzte CD wird beim Stalker folgen. Besonders gespannt war ich auf eine Show aus Russland: OTTO DIX, mit einer abgehobenen Show aus Cyber-Electro, Fetisch, Violine, Pantomime und dieser merkwürdigen, melancholischen Aura des ungewöhnlichen und beeindruckenden Countertenors des Sängers Draw. Die Band brachte die Moritzbastei zum Überlaufen und kam sehr gut an. Viele Fans gaben bereits zum Ausdruck, sie würden sich freuen, diese Band im nächsten Jahr wieder hier zu treffen.
Sehr ruhig ging es beim Auftritt der Briten ANTIMATTER im Schauspielhaus zu, die sich selbst als traurigste Rockband der Welt bezeichnen. Die Klänge kommen jedoch bekannt vor und das ist kein Wunder, denn Duncan Patterson von Antimatter war auch ehedem Gründungsmitglied von Anathema. Mit Rock hatte das weniger zu tun, vielmehr wurden akustisch melancholische, introvertierte Lieder geboten, die auf große Begeisterung stießen. Eine stille Perle unter all den Veranstaltungen. Und ruhig war es auch bei der Lesung „Dark Poetry“ von Sascha Blach und Tom Manegold im Cinestar. Deutsche dunkle, teilweise böse Lyrik und Texte zum Anlaß der Buchveröffentlichung von Sascha Blach „Trümmerpfad zur Transzendenz“.
Aber ich war nicht allein diesem Mega-Angebot an Veranstaltungen ausgesetzt. Parallel zu mir – und wenn ich sie traf, in reiche, historische Kostümen gekleidet – hielt sich MARINA SIDYAKINA vom Stalker beim WGT auf. Ich wollte von ihr hören, was sie so erlebt hat.
Marina, was sind so deine Eindrücke, besonders wenn du dieses WGT 2009 mit denen aus den früheren Jahren vergleichst – hat sich etwas geändert oder war es wie immer?
Ich würde sagen, das war dieses Jahr mein bestes WGT. Wenn man zum ersten Mal dabei ist, kann man das ganze Ausmaß des Festivals mit all seinen Strukturen kaum begreifen. Aber jetzt geht’s viel besser, ich kenne die Veranstaltungsorte und die verschiedenen Veranstaltungen selbst. Man verlegte in diesem Jahr das Romantigoth-Event vom Parkschlösschen zum Spiegelpalast, ein wunderschöner Ort mit roten Samtbehängen, luxuriösen Sesseln, schönen Menschen im Tanzsaal in ausschließlich historischen Kostümen. So etwas gibt es nicht in Finnland, das ist eine richtig deutsche Spezialität. Auch der Dress-Code war in diesem Jahr bei der Fetisch-Party viel strikter, das gefiel mir. Ich hatte das Gefühl, als wenn in diesem Jahr das Festival weniger überlaufen war, und viele Besucher sind auch schon am Montag abgereist, während andere weiterhin alles bis zum Ende genossen. Einige sind der Ansicht, die Bandauswahl wäre nicht die Beste gewesen, das war vielleicht der Grund für die vorzeitige Abreise von manchen, aber ich hatte keinerlei derartige Enttäuschung.
Welches Konzert oder welche Veranstaltung war für dich besonders spannend und interessant?
Nun, ich muß das Viktorianische Picknick an erste Stelle setzen, das wirklich umwerfend war. Ich bin mir sicher, irgendwann wird es auch in den offiziellen Veranstaltungsplan aufgenommen. Ich mochte aber auch die Gothic Pogo Party, die als Festival für sich selbst bezeichnet wird, aber eigentlich nur in einem traditionellen Gothic-Club stattfindet. Ich hatte da nur das Gefühl wie ein „als wir mal jung waren“, und du passt da nicht richtig hin ohne Mohawks und zerrissene Strumpfhosen. Ich fand auch die Autogrammstunden interessant, aber das war sicher für einige Bands etwas enttäuschend, denn immer wenn ich da war, gab es sonst kaum Interessenten. Als die legendären Specimen Autogramme geben sollten, gab es eine lange Schlange von Cyberanhängern, die Combichrist treffen wollten, die hinterher dran waren, aber niemand interessierte sich für so eine einflussreiche Band wie Specimen.
An was wirst du dich im Leben immer erinnern, wenn du an dieses WGT zurückdenken wirst?
Diese WGT-Erfahrung lehrt mich, dass ich mich nicht schämen soll, wie ich bin und was ich mag. Ich habe so viele unterschiedliche Leute gesehen, zunächst so ungewöhnlich und fremdartig, die sich eben selbst zum Ausdruck bringen. Dabei möchte ich niemanden für sein Auftreten und für seinen musikalischen Geschmack beurteilen, ich finde es einfach wunderbar, dass wir alle wir selbst sein können und es genießen können, wie wir sind und für wenigstens diese vier Tage lang alle Anpassung an Stereotypen hinter uns lassen. Außerhalb der WGT ist das oft nicht möglich, aber wenigstens vier Tage lang kannst du das prächtigste Kleid des 18.Jahrhunderts tragen oder du kannst an einer Leine auf deinen Gliedern in einer Gasmaske kriechen, wenn dir danach ist, ohne dass einer etwas sagt. Ich fand es auch toll, wie ich auch in Leipzig von normalen Leuten, älteren oder Kindern, angesprochen wurde, die mir Komplimente zu meinem Kleid machten und mich fotografieren wollten. Ich stimme wirklich mit der Ansicht überein, dass man das WGT als ein modernes Kunst-Festival bezeichnen kann, wegen der Kreativität und der Kreationen der Teilnehmer hier. Ich liebe das Gefühl, dazu zu gehören, gesehen und anerkannt zu werden, während es hier in meiner lokalen Szene einfach viel zu enge Grenzen gibt, und in Ost-Europa existiert solche Szene schon gar nicht. Ich stimme mit Viona-Art überein, die sagt, es ist so viel besser, sich in Schale zu werfen als zu locker und gewöhnlich herumzulaufen. Das Gefühl möchte ich das ganze Jahr über haben ohne Druck von irgendwas – so wie sich jeder Moment beim WGT anfühlt.
Hast du irgendwelchen besonderen oder besonders interessanten Menschen getroffen?
Allgemein finde ich es nicht so einfach, neue Leute bei der WGT kennen zu lernen. Normalerweise kommen die Leute in Gruppen oder Paaren und bleiben so während des Festivals zusammen. Außerdem ist es ja bekannt, dass die Deutschen nicht besonders gut Englisch sprechen, das ist auch ein Hindernis. Aber ich habe trotzdem zwei Paare aus den Niederlanden getroffen, die ihren eigenen Online-Shop betreiben, einer für Militärklamotten, der andere mehr im viktorianischen Stil. Ich traf auch einen holländischen DJ, und wir werden wohl in Kontakt bleiben. Auf der Gothic Pogo Party traf ich den Herausgeber des Deathrock Magazins aus den USA, was zwar außerhalb meiner eigenen Szene liegt, aber neu und spannend war. Und ich hatte die Möglichkeit, mich mit meiner Lieblingssängerin zu unterhalten, Candia von Inkubus Sukkubus, und das war ein sehr besonderer und emotionaler Moment für mich.
Erzähl mal mehr über die Konzerte, auf denen du gewesen bist…
Wie immer auf der WGT plant man, einen Haufen Bands zu sehen und hat einen richtig gut durchorganisierten Plan, aber am Ende ist man zufrieden, wenn man es nur zu ein paar davon schafft. Aber die Bands waren gut verteilt, so konnte ich die für mich wichtigen sehen, nämlich My Dying Bride, ASP und Inkubus Sukkubus. My Dying Bride waren hervorragend, obwohl ich lieber etwas mehr Violine als Playback gehört hätte. Aber dennoch eine tolle Show auf hohem Niveau sowohl in Sound, als auch im Licht. Der Sänger Aaron ist sehr emotional und lebhaft auf der Bühne, anders als die Gerüchte über seine Bühnenangst. Ich fand es toll wie dramatisch er sich bewegt und wie sensibel er die Lieder bringt, geradezu eine darstellerische Interpretation der Lyrik. Einige Leute meinten, es gäbe zuviel Metal bei der WGT, aber in der Art von Dying Bride mit all dem Doom und der Dunkelheit und trotz der ganzen Klischees (schwarze Raben, tote Rosen, Mondlicht, roter Wein, Blut etc.) fühlte ich, dass es dorthin passt.
ASP war pure Explosion! Die ganze Agra-Halle war beim Schreien und Klatschen wie verrückt, richtig heiß. Er hatte diese brennenden Feuerschuhe bei „Ich will brennen“, und ich war glücklich, nicht dort gekocht zu werden, die Halle war so absolut voll. Es herrschte sehr viel Energie, und die meisten von uns tanzten non-stop.
Mein persönlicher Favorit, Inkubus Sukkubus, war die eindrucksvollste und erinnerungswürdigste Erfahrung der ganzen WGT. Candia hat auf der Bühne so eine Kraft, einfach atemberaubend! Sie hat soviel Kraft und spirituelle Energie – es packt dich einfach! Ich vergaß sogar zu tanzen, während ich nur zusah, wie sie sich bewegte und sang. Ihre Stimme ist unglaublich, so stark, man hörte sie noch weit weg von der Parkbühne. Ich hätte mir eine andere Setlist gewünscht, aber dann gab es auch noch Zugaben, und ich hatte eine Gänsehaut während des gesamten Auftritts.
Eine positive Überraschung auf diesem Festival war die britische Deathrock/Theatralic-Band Scary Bitches. Live spielten sie mit mehr Elektronik als auf den Platten, und man konnte prima dazu tanzen. Sie spielten vor den Specimen, so hatte ich keinerlei Erwartungen an das, was kommen würde. Diese Bitches sind sehr unterhaltsam und lustig, ich werde mit Sicherheit von nun an mehr von ihnen hören.
Ich weiß, dass du auch das Qntal-Konzert sehen wolltest – war es für dich möglich, in das Schauspielhaus zu kommen, das ja total überfüllt war, so dass ein paar hundert Leute gar nicht erst rein kamen?
In den letzten Jahren war es aussichtslos, Qntal in irgendwelchen Indoor-Räumen beim WGT zu sehen. Es kamen sogar Besucher aus Australien und sie schafften es nicht, also habe ich mir diese Enttäuschung erspart und es gar nicht erst in diesem Jahr versucht. Ich denke, das ist ein Fehler der Organisation, wenn die schon wissen, wie viele Menschen diese Band sehen wollen und dass eindeutig die Größe des Veranstaltungsortes nicht ausreicht. Nächstes Mal sollte es mindestens die Agra-Halle sein, falls Qntal wieder dabei ist. Ich hörte davon, dass sie ein paar ihrer Songs im Heidendorf am Sonntag gespielt haben, aber es war physisch einfach nicht möglich, sie zu sehen, die ganze Gegend war einfach vollkommen zugestopft.
Zum Abschluss – was hätte besser sein können, was war gut, was war nicht so gut?
Ich würde die Gothic Pogo Party zum offiziellen WGT-Programm dazunehmen und keinen extra Eintritt dafür verlangen. Außerdem gab es einige Künstler, deren Auftritte sich überlagert haben so wie Steven Severin und Specimen. Es gab viele Leute mit ähnlichem Geschmack, die gerne beide gesehen hätten, also musste man seine Wahl treffen und das war nicht so einfach. Wer damit keine Probleme hatte, hatte ein großartiges Wochenende. Ich fand es gut, dass man bis 8 Uhr morgens tanzen konnte.
Text: Andreas Torneberg / Interview: Marina Sidyakina
photos: Andreas Torneberg