Interviews

Naðra: Weisheit aus dem Dunkel des Unterbewusstseins

Einer der interessantesten Newcomer der boomenden isländischen Blackmetalszene sind Naðra, deren Debütalbum Allir vegir til glötunar („Alle Wege ins Verderben“) in diesem Frühjahr das Licht der Welt erblickte. Gitarrist T.Í. gibt Auskunft über Geschichte und Schaffen der Band sowie die Inspirationen dahinter…

Herzlichen Glückwunsch zu eurem ersten Album! Könntest du uns so zum Anfang ein wenig über den Werdegang von Naðra erzählen und etwas über die Bandmitglieder und ihre Hintergründe verraten?

Ich finde es immer schwierig, die Entstehung von Naðra in Worte zu fassen. Ursprünglich waren das nur Ö. und ich; nachdem sich unsere Band Dysthymia getrennt hatte, wollten wir traditionelleren Oldschool-Blackmetal spielen. Die neue Band hatte jahrelang weder einen Namen noch die Absicht, live aufzutreten. Erst 2014 beschlossen wir, uns Naðra zu nennen und die Songs aufzunehmen, an denen wir die letzten Jahre über gefeilt hatten. Zu diesem Zeitpunkt holten wir einen Schlagzeuger dazu und nahmen das Demo Eitur auf. Als das Album weitestgehend komponiert war, fingen wir an, Liveauftritte in Betracht zu ziehen, und engagierten die Herren G. E. und D. G. an Bass und Gitarre. Das war die Naðra-Besetzung, die das Album aufgenommen hat. Eine Weile später stieg unser Drummer aus persönlichen Gründen aus und H.R.H. sprang in die Bresche. Ich persönlich finde, dass wir nie in besserer Form waren als jetzt. Die Sterne stehen günstig und wir haben Großes vor.

Allir vegir bis glötunar ist ein spannendes Album: klassischer Black Metal, aber gleich vom ersten Takt an ausgesprochen originell – zumindest ist es in diesem Genre nicht gerade üblich, dass ein Album direkt mit einem krassen Gitarrensolo loslegt. Wie würdet ihr euch selbst definieren und wo nehmt ihr eure Inspiration her?

Wir definieren uns nicht und unsere Inspiration schöpfen wir aus dem Dasein. Alles um uns herum beeinflusst uns und wir nutzen diese Einflüsse beim Komponieren. Manchmal ist es besser, weniger zu denken und mehr zu handeln. Wir machen einfach das, was uns zum jeweiligen Zeitpunkt richtig erscheint.

Ö’s Gesang ist sehr dramatisch und die Wortspiele, die die Songtitel miteinander verbinden, demonstrieren wieder einmal, wie gut sich das Isländische für Metal-Lyrics eignet. Wer von euch schreibt die Texte und was sind die wichtigsten Themen?

Die Texte stammen aus meiner Feder und befassen sich mit den Aspekten des menschlichen Geistes, die von der Gesellschaft verleugnet und unterdrückt werden. Die primitive animalische Natur. Der Teufel im Menschen. Wenn die Menschheit versucht, ihren natürlichen Charakter zu unterdrücken, wird dieser stattdessen stärker, bis das Individuum die Kontrolle über sich verliert. Wir preisen das im Dunkel des Unterbewusstseins Verborgene, sei es Hass, Trauer oder Lust. Aus diesen Gemütszuständen lässt sich viel Weisheit ziehen.

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Der Song „Sár“ endet mit einem Sample aus der alten Dokumentarserie Þjóð í hlekkjum hugarfarsins (dt. „Volk in den Fesseln der Mentalität“), wie kurze Atempause, bevor das grandiose „Fallið“ reinknallt. Die Serie zeichnete ein ziemlich düsteres Bild der isländischen Sozialgeschichte, aber in welcher Beziehung steht „trúin á moldina“ (Glaube an den Erdboden) zum Inhalt des Albums?

Freut mich, dass du den Clip erkannt hast! Das Besorgniserregende ist, dass die Isländer als Nation immer noch in dieser Mentalität gefesselt sind. Ein Volk von Knechten, regiert von Korruption und den persönlichen Interessen der Elite. Bei dieser handelte es sich in der Vergangenheit um die Kirche, später die landbesitzenden Bauern und heute Finanzkriminelle und skrupellose Bankiers. Mit dieser Mentalität, dieser Kultur sind wir zu allen Zeiten aufgewachsen und sie färbt unser Weltbild.

Mir ist aber wichtig, daraufhinzuweisen, dass „Glaube an den Erdboden“ für uns eine andere Bedeutung hat als in der Doku-Serie. Erde und Natur zählen zu den wichtigsten Einflüssen in unserer Musik und Lyrik. Insofern war der Grund dafür, diesen Clip zu verwenden, ein zweifacher. Glaube an die Erde ist der Glaube an die Gesetze der Natur und an alles, was diesen Gesetzen unterliegt.

Auch die in weiß gehaltenenen Cover von Album und Kassetten heben sich von der schwarzen Masse ab. Stammt das Artwork komplett von [Urðun-Sänger] Skaðvaldur?

Weiß hat eine tiefe Bedeutung in der isländischen Kunst und Poesie. Skaðvaldur hat das Albumcover in Kupfer gestochen, das mit Venus, Schönheit und Okkultismus assoziiert wird. Das Bild zeigt eine beeindruckende, majestätische Kreatur, die in die Tiefe stürzt, obwohl sie ihre Fesseln sprengen konnte. Ich überlasse es den Lesern, die Bedeutungen dahinter zu erforschen.

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Das Album war soeben erschienen, als ihr eine EP mit zwei neuen Songs hinterhergeschoben habt, die nicht auf dem Longplayer sind. Warum habt ihr euch für diese Lösung entschieden?

Die EP war schon eine Weile in Arbeit gewesen, als die Tour anstand, und wir wollten sie vor der Abreise fertig kriegen. Dann haben wir beschlossen, sie erst auf dem Weg zum Roadburn-Festival anzukündigen, um den Leuten eine kleine Überraschung zu bereiten.

Auf einem Song der EP singt Altmeister Eiríkur Hauksson mit, der sich mit klassischem Hardrock und Eurovisionsbeiträgen [sowohl für Island als auch für seine jetzige Heimat Norwegen – Red.] einen Namen gemacht hat, aber soweit ich weiß nicht in Verbindung mit Black Metal und dergleichen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Das war im Grunde total simpel. Wir setzten uns mit ihm in Verbindung und fragten, ob er daran interessiert wäre, bei diesem Song mitzumachen. Er überlegte sich das eine Weile und kam mit uns ins Gryfjan-Studio, als er in Island war. Wir verbrachten die meiste Zeit damit, Bier zu trinken und über Metal zu quatschen, aber nach ein paar Stunden hatten wir gleich mehrere brauchbare Takes. Wir hatten für [Eiríkurs frühere Bands] Artch und Drýsill immer eine Menge übrig und wussten sofort, dass sein Gesangsstil perfekt zu dem Song passen würde.

Habt ihr vor, künftig eventuell mehr Cleangesang zu verwenden?

Wir schließen nichts aus.

Sowohl Album und EP sind auf Vinyl und CD zu haben, aber euer Hauptlabel Vánagandr produziert offenbar ausschließlich Kassetten. Ist das als Hommage an die alten Zeiten zu verstehen oder sind die Gründe eher praktischer Natur?

Sowohl als auch. Ich selbst habe seit meiner Jugend nie aufgehört, Kassetten zu verwenden. Als ich anfing, Metal zu hören, fand ich es immer ziemlich spannend, Demokassetten von unbekannten Blackmetalbands zu finden. Das Medium hat definitiv seinen Reiz. Die warme Verzerrung im Sound und dieses nostalgische Gefühl beim Umdrehen und Zurückspulen. Kassetten haben auch den Vorteil, dass sie im Allgemeinen billiger in der Produktion sind als CDs. Außerdem nehmen sie weniger Platz weg, was Versandkosten spart. Aber wir schließen nicht aus, unsere Musik auch auf anderen Medien zu veröffentlichen. Ob wir das letztendlich machen, wird sich zeigen.

Wer weniger oldschool-mäßig drauf ist, findet Naðra auch auf Bandcamp, entweder als Stream für lau oder zum Runterladen gegen Bezahlung nach eigenem Ermessen. Lässt sich damit Geld verdienen, beispielsweise verglichen mit Spotify?

Beim Black Metal ging es noch nie um die Kohle. Aber wir konnten die Bandcamp-Einkünfte dazu nutzen, T-Shirts und andere lustige Sachen zu drucken. Uns ist es sehr wichtig, dass die Musik allen kostenlos für alle zugänglich, die Interesse daran haben. Der Wert von Musik lässt sich nicht in Geld messen, und deswegen halten wir es für ein gutes System, dass die Leute ihren Preis selbst bestimmen dürfen.
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Ihr habt im Frühjahr mehrere Festival- und Clubgigs rund um Europa gespielt. War das eure erste Tour im Ausland, wie kam sie zustande und wie lief das ganze Abenteuer?

Abenteuer ist noch milde ausgedrückt. Das war die erste Tour, die wir weitgehend selber organisiert haben. Meist spielten wir zwei- bis viermal am Tag und fanden selten mehr als 4 Stunden Schlaf pro Nacht, bevor wir zum nächsten Flughafen mussten. Der Trip ging körperlich und geistig an die Substanz, aber er hat uns unglaublich viel gegeben und wir sind sehr dankbar für die Chance und für all die tollen Leute, die wir dadurch kennengelernt haben.

Auf dem Roadburn habt ihr auch die Úlfsmessa (Wolfsmesse) aufgeführt, zusammen mit den anderen isländischen Bands, die auf dem Festival auftraten. Was ist die Geschichte dieser Veranstaltung?

Úlfsmessa war eine „Zeremonie“ in drei Teilen. Die ursprüngliche Idee kam uns, als wir zum letzten Mal die Running Order für die Stahlwerk-Bühne beim Eistnaflug zusammenstellten [die traditionsreiche Off-Venue-Lokalität des Festivals wurde vor zwei Jahren abgerissen – Red.]. Wir wollten das Stahlwerk auf ganz besondere Weise verabschieden und taten uns zusammen um die erste Úlfsmessa auf die Beine zu stellen. Dieser erste Teil thematisierte die maskuline, luziferische Zerstörungskraft, und die Bühnenaktion brachte das zum Ausdruck. Im folgenden Jahr [2015] beschlossen wir, uns weiter in diese Gedankenwelt zu vertiefen, und führten Teil 2 auf – wieder beim Eistnaflug, aber nun auf der Egilsbúð-Bühne. Diesmal drehte sich die Zeremonie um das Weibliche, die Magie das Mysteriöse, und die visuelle Inszenierung war dementsprechend. An jenem Abend trafen wir Walter [Hoeijmakers], der uns einlud, die Úlfsmessa auf dem diesjährigen Roadburn aufzuführen. Wir nahmen das Angebot an und begannen sofort, die Fundamente für die dritte und letzte Úlfsmessa zu legen. Teil 3 handelte von der Leere, die auf die in den ersten beiden Teilen behandelte Zerstörung folgt. Die Leere, die Raum für neue Schöpfung schafft.

Der isländische Black Metal hat sich in den letzten Jahren vervielfacht, urplötzlich scheint es jede Menge geiler Bands zu geben. Was ist passiert und warum gerade jetzt?

Was derzeit abgeht, ist nicht aus dem Nichts entstanden. Die Bands arbeiten schon seit mehreren Jahren an ihrem Material, und es ist im Grunde reiner Zufall, dass all diese Alben innerhalb so kurzer Zeit auf den Markt kamen. Bands wie Sólstafir und Svartidauði hatten schon früher das Interesse der ausländischen Presse am isländischen Metal geweckt, so dass man sagen könnte, dass alles genau zum richtigen Zeitpunkt passierte.

Gleichzeitig ist die Szene relativ überschaubar und engmaschig – Vorteil oder Nachteil?

Das ist wahrscheinlich die größte Stärke der Szene. Ohne die Nähe der anderen Bands hätten wir Úlfsmessa oder die Reise nach Roadburn nicht verwirklichen können, und Festivals wie Oration, Norðanpaunk oder Vetrnætr gäbe es vermutlich nicht.

Und die klassische Schlussfrage: Was steht bei Naðra als nächstes auf dem Plan?

Nichts, was besonders überraschend wäre. Wir sind dabei, Material für das nächste Album zu komponieren, und planen auch ein paar Konzerte.

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Fotos & Übersetzung: Tina Solda

Tina Solda

tina@stalker-magazine.rocks - Konzert- und Festivalberichte, Fotos, Interviews - - - Bevorzugte Musikrichtungen: melancholischer Death-, unkonventioneller Black-, melodischer Doom-, dramatischer Folk- und intelligenter Paganmetal (Schwerpunktregionen: Island, Finnland & Norwegen) - - - Sonstige Interessen: Gitarre, Bücher, Bier, Kino, Katzen.

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