Eistnaflug – Neskaupstaður (IS), 6.-9.7.2016
Obwohl ich in den letzten Wochen eifrig Islands phänomenalen Erfolg bei der Fußball-EM bis hin zur triumphalen Heimkehr der Mannschaft zwei Tage zuvor mitverfolgt hatte, war wohl nicht nur das Meer der blaugewandeten Anhänger in Frankreich und Reykjavík schuld daran, dass ich den Tribünenhit „Ég er kominn heim“ als Ohrwurm hatte, als sich mein Bus letzte Woche Neskaupstaður näherte. Ich hatte wirklich das Gefühl, heimzukommen, als ich mich samt Rucksack aus dem Fahrzeug wuchtete und die Sonne auf dem Fjord glitzern sah. Und erst recht, als ich etwa zwanzig Minuten später mein Zelt auf dem wohlbekannten Campingplatz aufschlug. Ich war wie üblich alleine gekommen, traf aber unmittelbar auf eine Gruppe Gleichgesinnter, die sich schnell als besten Campingkumpel herausstellten, die man/frau sich vorstellen kann. Die viertägige Party begann ohne Umschweife, und es war als kleines Wunder zu werten, dass ich es tatsächlich zwei Stunden später zu Marduk schaffte. Die netterweise eine bessere Show lieferten als 2011 beim Firebox-Festival daheim in Finnland. Jener einzige Marduk-Gig, den ich je gesehen hatte, war grottenschlecht gewesen und hatte unter chaotischen Umständen vorzeitig geendet.
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Dass ich trotzdem fast während ihres Sets einschlief, war nicht den Schweden anzurechnen, sondern schlicht die Folge von für fast 24 Stunden Wachsein nach einer sehr kurzen Nacht. Schade eigentlich, denn ich hätte auch Agent Fresco sehen wollen. Und ja, sogar Úlfur Úlfur – ich hab’s eigentlich nicht mit Hiphop, aber irgendwie finde ich die gut. Hätten mir live wahrscheinlich erst recht gefallen, aber leider überfiel mich die Erschöpfung und kommandierte mich nach den ersten paar Songs von Agent Fresco ab in den Schlafsack.
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Donnerstag
Da der kleine Laden neben dem Campingplatz schon zu hatte, als ich am Mittwochabend ankam, lag meine erste Mission am Donnerstagmorgen in der Nahrungsbeschaffung. Wie sich herausstellte, gibt gegrillter Hering ein ausgezeichnetes Frühstück ab, zumal ich nur die Augen vom Grill heben und über die Zelte hinwegschauen musste, um zu sehen, woher er stammte. Der Eistnaflug-Campingplatz befindet sich an einem Berghang, der bis hinunter zum Fjord reicht, zwar nicht extrem steil, aber doch mit genug Gefälle, dass beim Regen im vergangenen Jahr mehrere Zelte weggespült wurden. Zum Glück war das Wetter dieses Jahr erheblich besser.
Ich hatte bis in den frühen Nachmittag geschlafen, und als ich mit meinem Fisch fertig war, war es schon Zeit, runter ins Dorf zu laufen, denn einer aus unserer Campingplatztruppe hatte um 17 Uhr auf der Bühne zu stehen. Seine Band Urðun war diejenige, deren Logo mir bei seinem Erscheinen Eistnaflug-Webseite die meisten Entzifferungsschwierigkeiten bereitet hatte, und entsprechend heftig war auch das Dargebotene. Als sie mit ihrem Set durch waren, war auch der letzte Rest von Müdigkeit verflogen.
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Weitaus melodischer war die nächste Band, Nykur. Deren neue Scheibe war vor kurzem Album der Woche auf RÁS 2 gewesen (als im Ausland lebende Isländischstudentin weiß ich den Segen des Internetradios zu schätzen), sodass ich es ansatzweise kannte. Kaufte es dann auch direkt, obwohl die Studioversionen der Songs nicht an die Live-Energie der Band herankommen. Geradliniger Hardrock mit guten Melodien, und die zeitweisen Powermetal-Anflüge sind dankenswerterweise diskreter, als Cover und Texte erwarten lassen.
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Als nächstes waren Dark Harvest dran, ein Instrumental-Trio um Islands Gitarrenlegende Gulli Falk. Als dieser Veteran zahlreicher Bands vor kurzem mit Krebs diagnostiziert wurde, taten sich Kollegen und Fans zusammen und organisierten eine Spendenaktion und ein Benefizkonzert mit allen Top-Metalacts des Landes, und es war tröstlich und ermutigend, den Mann live auf der Bühne zu sehen und obendrein in bewundernswerter Form. Möge die Macht noch viele Jahre mit ihm sein.
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Ich konnte Dark Harvest nicht komplett sehen, weil ich auch Zhrine nicht verpassen wollte, die fast gleichzeitig auf der anderen Bühne spielten. Die meisten Bands, die ich mir am Donnerstag anschaute, spielten auf der Brennivín-Bühne im Hotel Egilsbúð, dem ehemaligen Hauptveranstaltungsort des Festivals. Seit letztes Jahr befindet sich die eigentliche Hauptbühne (zu Ehren der sponsernden Brauerei auf den Namen Boli-Bühne getauft) im etwa zehn Minuten zu Fuß bergauf entfernten Íþróttahúsið, der örtlichen Schulturnhalle, in die gut 1000 Leute passen. Zhrine waren die Latscherei allemal wert, die Band ist eine der wichtigsten neuen Namen in Islands Death/Doom-Szene. Wobei ihr bleischweres Repertoire auch seine ruhigeren Momente hat. Extra-Stilpunkte für den schlanken E-Kontrabass – falls ich überhaupt je zuvor so ein Ding gesehen habe, dann wohl sicher nicht in einem Death-Metal-Kontext.
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Die größte Überraschung des Tages waren Kolrassa Krókríðandi – alles, was ich im Vorfeld über sie gewusst hatte, war, dass sie eine alte Band aus den neunziger Jahren waren, die sich im Grunde längst aufgelöst hatte, aber in den letzten Jahren wieder gelegentlich zusammen aufgetreten war. Es begab sich jedoch, dass auf dem Flug von Reykjavík nach Egilsstaðir Bassistin Bíbí neben mir saß und mir genug über die Band erzählte, um mich neugierig machen. Und siehe an – die waren sogar mal richtig geil. Sängerin Eliza spielte auch Geige, was dem Sound einen zusätzlichen Kick gab. Sogar Originaldrummerin Birgitta spielte ein paar Songs mit der Band, bevor Karl Ágúst übernahm, der anno 1993 ihen Hocker übernommen hatte. Gegen Ende des des Sets musste ich aufs Klo, böser Fehler, denn anscheinendend verpasste ich was; als ich wiederkam, war die Bühne voller Mädels und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer sie waren und woher sie kamen. Die gemeinsame Darbietung von „All Together Now“ ging aber auf alle Fälle gut ab, und dass ich in jenem Moment eine gewisse Melancholie verspürte, hatte absolut nichts mit der Band zu tun. Mich trieb lediglich eine Frage um, die alles andere als weit hergeholt war: wenn Island am Sonntag gegen Frankreich gewonnen hätte und nun gerade im Halbfinale anträte, was wäre aus den restlichen Gigs des Abends geworden?
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Als nächstes auf der Boli-Bühne waren Melechesh angesgt, die ich allerdings gerade erst auf ihrer Frühjahrstour in Helsinki gesehen hatte (zusammen mit Meshuggah, die ich mir zwei Tage später aus demselben Grund schenkte). Auch wenn die großen internationalen Namen eindeutig für die Attraktivität von Eistnaflug sprechen, ich bin persönlich mehr an den kleineren einheimischen Bands interessiert, die selten oder nie nach Finnland kommen. Okay, die Band, die ich mir anstelle von Melechesh gab, war Sólstafir, die vermutlich öfter in Helsinki gespielt haben als in irgendeiner anderen Stadt außerhalb Islands. Trotzdem ist es irgendwie etwas anderes, sie auf ihrer Heimatinsel zu sehen. Auch wenn der Set am Donnerstag fast ausschließlich aus alten Sachen bestand (Ausnahme „Ljós í stormi“), mit denen ich längst nicht so viel anfangen kann wie mit ihren beiden jüngsten Alben. Aber nun mal eben mehr als mit Melechesh. Außerdem war das Bier im Egilsbud billiger als in der Sporthalle… dachte ich zumindest, bis ich den Bierpass an der Bar der Boli-Bühne entdeckte, der praktisch zu sechs Bieren zum Preis von fünfen berechtigte und somit den Unterschied zur anderen Venue so gut wie eliminierte. Und obendrein den Preis für den Festivalkraftstoff deutlich unter das beim heimischen Tuska übliche Niveau senkte – soviel zum Klischee der hohen Alkoholpreise in Island.
Angist war eine der Bands, auf die ich mich am allermeisten gefreut hatte, und sie traten vom ersten Takt an Arsch, dass es wehtat. Das Quartett hatte 2011 eine EP mit kompromisslosem Death Metal veröffentlicht, aber seither hatte man nicht mehr viel von ihnen gehört, abgesehen von gelegentlichen Updates über die zaghaften und immer wieder unterbrochenen Fortschritte des ersten Albums. Aber anscheinend tut sich endlich was: vor ein paar Wochen spielten sie ein paar Clubshows mit ihren schwedischen Kollegen Age Of Woe (bei denen Gýða von Angist im Frühjahr eingesprungen war, als ihr eigener Gitarrist verletzungsbedingt nicht mit auf die Europatour konnte) und der Eistnaflug-Gig zeigte die Band in makelloser Form und bereit zu neuen Eroberungen. Jetzt bringt bloß endlich mal das verdammte Album raus, bittebittebitte…
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Nach einer kurzen Pause ging es mit etwas ruhigeren Tönen weiter – Dynfari fingen mit zarter Clean-Gitarre an, und obwohl der Gig auch rauere Seiten hatte, ist ihr Black Metal vor allen Dingen atmosphärisch, so ein bisschen in Richtung Alcest oder Agalloch. Ebenso wie Angist hatte ich sie nie zuvor live gesehen, obwohl ihre Platten bei mir im Regal stehen. Mit anderen Worten, eine der Bands, die ich unbedingt sehen wollte. Abgerundet wurde der Genuss nicht nur durch Kerzenlicht und Räucherstäbchen auf der Bühne, sondern auch durch die Präsentation von neuem Material, das sogar eher noch besser klang das 2015 erschienene Meisterwerk Vegferð Timans. Ein atemberaubender Auftritt und so intensiv, dass ich mich hinterher leer und erfüllt zugleich fühlte – und unfähig, noch irgendetwas aufzunehmen. Es war zwar noch nicht einmal Mitternacht und ich eigentlich nicht körperlich müde, aber anstatt zurück zur Boli-Bühne ging ich direkt auf den Campingplatz, zumal eh keine der verbleibenden Bands des Abends das soeben Erlebte hätte toppen können – nicht einmal Misþyrming, bei allem Respekt.
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Freitag
Am Donnerstag etwas früher Schluss zu machen, war im Grunde kein falsches Rezept, denn das Freitagsprogramm war ziemlich gnadenlos. Als allererstes stand jedoch das Schwimmbad auf dem Programm, genauer gesagt das heiße Thermalbecken. Der „heitur pottur“ gehört zum isländischen Lebensstil wie die Sauna zum finnischen und tut nach ein paar Nächten im Zelt ganz besonders gut – der Eistnaflug-Campingplatz ist gut mit Toiletten und fließendem Wasser ausgestattet, hat aber keine Duschen. Und das Schwimmbad in Neskaupstaður ist obendrein ein sehr erschwinglicher Luxus, zumal im Vergleich zu Reykjavík. (Oder Helsinki, nebenbei bemerkt.)
Zwar sind die Thermalbecken die Hauptattraktion, aber ich hoffe auch, niemals zu erwachsen für die megalomanöse Wasserrutsche zu werden. Es gibt sogar eine Sauna, aber lustigerweise sitzen die Leute in Badeanzügen auf den Bänken, was in finnischen öffentlichen Saunas streng verboten ist… wie dem auch sei, ich fühlte mich wie neugeboren, als ich ins örtliche Museum ging, das neben den farbenfrohen abstrakten Gemälden von Tryggvi Ólafsson auch die beim Eistnaflug veranstalteten Podiumsdiskussionen und Listeningsessions beherbergte. Die meisten davon verpasste ich, aber immerhin schaffte ich es zur Diskussion über Frauen im Metal, geleitet von zwei Journalistinnen, einer PR-Agentin und der Leadgitarristin von Angist. Das Thema liegt mir schon aus biologischen Gründen am Herzen, und wie die Panelistinnen hoffe ich auf eine Zukunft, in der Instrumentalistinnen in Metalbands ebenso unspektakulär sind wie in Sinfonieorchestern. Übrigens, wenn ich mich in diesem Bericht nicht spezifisch zum Geschlecht einzelner Bandmitglieder äußere, heißt das nicht automatisch, dass diese allesamt männlich wären. Beim Eistnaflug standen, wie bereits im Vorjahr, eine ganze Reihe von Frauen auf der Bühne, und längst nicht nur am Mikrofon. Ein Grund mehr, warum ich mich dort so zu Hause fühle.
Die Diskussionsrunde endete rechtzeitig, bevor Skurk auf der Brennivín-Bühne auf der gegenüberliegenden Straßenseite anfingen. Auch dies eine alte Band, die vor Jahren aus der Szene verschwunden war und vor kurzem ein Comeback hatte. In diesem Frühjahr nahmen sie mit Unterstützung einer Crowdfunding-Kampagne ein Album auf, habe es zwar noch nicht gehört, aber zumindest zumindest live klang das Material vielversprechend. Die Wurzeln der Band liegen im Thrash Metal, mit Cleangesang, es sind aber auch Anklänge an Punk und sogar Doom zu hören. Skurk war übrigens schon mindestens die dritte Band des Wochenendes mit Kristján B. Heiðarsson am Schlagzeug. Was ihn mit Sicherheit zu einem der am härtesten arbeitenden Musiker des Festivals machte, und gleichzeitig zu einem Paradebeispiel für die Engmaschigkeit der isländischen Szene. In verschiedenen Bands zu spielen, ist eher die Regel als die Ausnahme, und es herrscht keinerlei Verpflichtung dazu, sich auf ein bestimmtes Genre zu beschränken.
Skurk
Das Wochenende war so vollgepackt mit mit guten Bands, dass Überschneidungen unvermeidlich waren; zu den ärgerlichsten zählten Saktmóðigur vs. Mannveira und Kontinuum vs. Naðra. In beiden Fällen entschied ich mich für die Band, die ich nicht bereits im Vorjahr gesehen hatte, sprich Saktmóðigur und Naðra. Erstgenannte spielten gutgelaunten Punkrock für alle Generationen – im Gegensatz zu bisher war Eistnaflug diesmal ohne Altersbeschränkung, und speziell bei Saktmóðigur sah ich ziemlich viele Kids in der ersten Reihe. Bei „Kobbi V“ machte das Mikrofon im Publikum die Runde, und als die Band mit „Eistnaflugsdans“ loslegte, wurden die Musiker schnell zu einer verschwindenden Minderheit auf der großen Bühne. Partyyyy!
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Gewaltsamer als bei Zhrine krachte der Hammer wohl nur noch bei einer Band des Wochenendes auf den Schädel. Die Rede ist von Beneath, die nach Saktmóðigur die Hauptbühne übernahmen. Die Deathmetaller aus Reykjavík haben bislang zwei Alben veröffentlicht, aber zumindest die erste Hälfte des Sets bestand ausschließlich aus Material vom neueren, The Barren Throne (2014).
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Den Rest bekam ich nicht mehr mit, weil ich frühzeitig losging, um nur ja nicht den Anfang von Naðra zu verpassen. Ich hatte die Band noch nie zuvor gesehen; mein größter Fehler beim letztjährigen Eistnaflug war das Verpassen der Úlfsmessa (Wolfsmesse) – eines gemeinsamen Rituals von Naðra, deren Schwesterband Misþyrming und ein paar anderen – für die, leider Satans, todlangweiligen Vallenfyre. Obendrein ist Naðras Debütalbum Allir vegir til glötunar eine meiner bisherigen Lieblingsscheiben des Jahres 2016. Ihr melodischer, leadgitarrenbetonter Blackmetal ist schon auf Platte ziemlich unwiderstehlich und knallt live erst recht in die Fresse. Sänger Ö ging von den ersten Tönen des Openers „Fjallið“ an ab wie ein Tier und wurde am Ende der Show vom Publikum mit einem lautstarken „Hann á afmæli í dag“ gefeiert, da er zufällig gerade Geburtstag hatte. Habe ich eben was von Party gesagt?!
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Die folgende Band war Lightspeed Legend, die meine Kollegin hier kürzlich als Fresh Act des Monats interviewt hat. Frisch klangen sie in der Tat und überhaupt so auf den ersten Eindruck ziemlich gut, aber Naðra wirkten noch zu stark nach, als dass ich mich ernsthaft hätte auf ihre Show konzentrieren können. Auf alle Fälle bildeten LL mit ihrer etwas leichteren Kost einen guten Übergang von den brutalen Sounds der vorigen Bands zum Classic Rock von Dimma.
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Nicht, dass es besondere Maßnahmen gebraucht hätte, um mich in Stimmung für letztere zu bekommen. Die meisten meiner Lieblingsbands auf dem Festival stammten aus dem Black- und Death-Lager, aber Dimma zählten nichtsdestoweniger zu den absoluten Über-Highlights – obwohl es etwas dauerte, bis sie richtig in die Gänge kamen. Nach dem ersten Song quittierte Ingós Verstärker den Dienst, und trotz seines langjährigen Nebenjobs als professioneller Zauberer war der Gitarrist auf die Magie seiner Tech-Crew angewiesen, die fast zehn Minuten brauchte, um die Sache in Ordnung zu bringen. Sänger Stebbi Jak gelang es zwar, das Publikum auch während der unfreiwilligen Unterbrechung zu unterhalten, aber erst als das aus Fußballstadien berühmte Wikinger-HÚH von den Wänden widerhallte, erwachte Ingós Apparatur zum Leben. Biggi gab den Takt zu „Andsetinn“ vor, und der Rest war eigentlich nur noch der Wahnsinn. Die Halle war rappelvoll und die meisten von uns sangen fast von vorne bis hinten mit, den Refrain von „Ég brenn“ sogar noch dann, als die Band eigentlich bereits aufgehört hatte. Bei der Megaballade „Ljósbrá“ ging Stebbis Leadstimme im tausendstimmigen Chorgesang fast völlig unter – ausgenommen bei den hohen Tönen, die für uns Normalsterbliche unerreichbar sind. Es war unmöglich, auch nur in die Nähe der ersten Reihe zu kommen, aber immerhin war ich eine von denen, die Stebbi beim Crowdsurfen während „Þungur Kross“ in der Luft hielten. Touched by the foot of God, oder wie war das…
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Als nächstes waren meine alten Bekannten von Amorphis an der Reihe. Dass ich sie seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte, ist insofern bemerkenswert, als dass ich sie früher durchschnittlich fünfzehn Mal pro Jahr zu sehen pflegte, und es hatte etwas Kurioses, den Jungs ausgerechnet in Island zu begegnen. Es war ihr erster Besuch dort, und sie kamen praktisch direkt vom Warm-up für Black Sabbath in Helsinki (der andere Anheizer waren Opeth gewesen, die tags drauf ebenfalls das Eistnaflug beehrten), den Unterschied stelle ich mir ansatzweise krass vor. Der Set begann mit drei Songs vom aktuellen Album sowie „Sky Is Mine“ von Skyforger, aber danach ging ich erstmal, um auch etwas von Bootlegs auf der anderen Bühne zu sehen. Fehlaktion – ein Blick auf die Uhr hätte mir verraten, dass Amorphis mit Verspätung abgefangen hatten, und der vergleichsweise kurze Bootlegs-Gig war bereits beim Outro angelangt, als ich die Venue erreichte. Dafür spielten wenigstens Amorphis so lange, dass ich bei meiner Rückkehr in die Turnhalle noch ein paar Songs mitbekam.
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Als die letzten Töne von „Black Winter Day“ verklungen, war es lange nach Mitternacht, aber das Energielevel war immer noch sehr hoch, sowohl innerlich als auch um mich herum. Anstatt den bei Dimma gemachten Fehler zu wiederholen, schenkte ich mir diesmal den Fotograben und sicherte mir stattdessen einen Platz an vorderster Publikumsfront, bevor die zweite Mitsingband des Abends loslegte: Sólstafir, mit einem völlig anderen Set als am Abend zuvor. Vor ein paar Monaten hatte ich ernsthaft überlegt, zu einer ihrer Shows in Mitteleuropa zu fliegen, wo sie das komplette Ótta-Album spielten – nicht nur die bislang beste Scheibe der Band, sondern eine meiner Lieblingsplatten überhaupt. Ich verzichtete in der Hoffnung, dieselbe Show auf dem Eistnaflug auf erleben, und wie’s die Vorsehung so will, traf meine Vermutung ausnahmsweise mal ins Schwarze. Begleitet vom Streichquartett Amiina und Martin Curtis-Powell am Klavier spielte die Band die Songs größtenteils in Originalreihenfolge (mit Ausnahme von „Dagmál“, das als Opener fungierte) und Addi vergaß nicht einmal, das Ende von „Rismál“ zu lokalisieren, obwohl er ansonsten im Sog der Leidenschaft seiner Performance einige Textstellen durcheinanderschmiss.
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Nach dem Titelsong kam Festivalorganisator Stefán Magnússon auf der Bühne, um eine kurze Ansprache zu halten, dem Publikum zuzuprosten und alle daran zu erinnern, aufeinander aufzupassen. Was zu betonen auf dem Eistnaflug eigentlich kaum notwendig ist, da alle das Motto des Festivals verinnerlicht zu haben scheinen: „Bannað að vera fáviti“ – für Idioten verboten. Wäre es nicht möglich, auch im weltweiten Alltag nach dieser Maxime zu leben? Würde keinen Pfennig kosten und sicherlich das eine oder andere Problem lösen.
Die letzte Band des Abends waren die psychedelischen Hardrocker Vintage Caravan. Letztes Jahr war das rein männliche Trio in sexy Miniröcken aufgetreten, diesmal erschienen sie in Glitterwesten und mit Corpsepaint auf der Bühne. Zum Knutschen… auch wenn ich zugegebenermaßen nicht ganz bis zum Schluss blieb, sondern nach „Innerverse“ schlafen ging, meinem Lieblingsstück von VC. Perfektes Ende eines genialen Abends.
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Samstag
Traditionsgemäß begann auch der Samstag im Schwimmbad und erst gegen Nachmittag. Auf dem Weg nach draußen bemerkte ich die Ankündigung, dass DDT Skordýraeitur, deren Auftritt in der Nachbargarage ich am Tag zuvor verpasst hatte, in wenigen Minuten „bei Fiddi auf dem Hof“ spielen würden, was praktischerweise am Weg zum Campingplatz lag. Ich schaute sie mir eine Weile an, bevor ich die nassen Badeklamotten ins Zelt brachte, und als ich auf dem gleichen Weg zurückkam, standen die Blackmetaller von Narthraal auf der improvisierten Bühne. Genau das ist Eistnaflug: ein Festival, an dem sich das ganze Dorf beteiligt.
Narthraal
Der erste „offizielle“ Act des Tages für mich war Mammút, eine weitere Band, die live härter klingt als auf Platte. Nicht gerade Metal im eigentlichen Sinne des Wortes, im offiziellen Sprachgebrauch wird sowas wahrscheinlich als post-weißdergeier bezeichnet, aber genauso gut könnte man natürlich fragen, ob Sólstafir heutzutage noch dem Metal zuzurechnen sind. Wen kümmert’s, scheißegal. Ich weiß nur, dass Mammút ausgesprochen schöne und ziemlich hypnotische Musik liefern, und mir gefällt’s.
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Der Kuchen, den mir ein kleines Mädchen in Fiddis Hof verkauft hatte, hielt mich für eine Weile auf den Beinen, aber nach Mammút begann mein Magen, massivere Ansprüche zu stellen. Die Pizzabude neben dem staatlichen Spirituosenladen (der am Eistnaflugswochenende verlängerte Öffnungszeiten hatte – in Finnland undenkbar), hatte leider Siesta, aber die Snackbar an der Tanke nebenan hatte ebenfalls Pizza im Angebot. Freilich hatte gerade jeder dieselbe Idee gehabt, und ich durfte mehr als eine Stunde auf meine Mahlzeit warten. Nicht, dass das ein ernsthaftes Problem für mich darstellte – ich verpasste zwar zwei Bands, aber andererseits war ich ganz froh über die Gelegenheit, in Ruhe und mit vernünftiger Internetverbindung checken zu können, was es auf Facebook und im Rest der Welt Neues gab. Als ich zurück zur Brennivín-Bühne kam, begannen dort gerade Dulvitund. Ihr Setup wirkte nicht gerade vertrauenerweckend – ein Mac und ein kleiner Mixer auf einem Tisch – aber das Duo wartete mit ausgesprochen spannenden, düsteren Ambient-Sounds auf, die (wie im übrigen schon der Bandname zu verstehen gibt), direkt ins Unterbewusstsein gingen und mich bis zum Ende fesselten.
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Die einzige Band, die ich am Samstag auf der Hauptbühne sah, war Opeth (die andere wäre HAM gewesen, was jedoch mit Auðn kollidierte, insofern nichts zu machen), die ich schon oft gesehen habe und die immer wieder gut sind. Oder zumindest mittlerweile wieder – während der Heritage-Periode fand ich sie zwischendurch eher zum Einschlafen, aber zum Glück war der Durchhänger nicht von Dauer. Inzwischen spielen sie live wieder jede Menge älteres Material, und dass ich mich bei Mikaels Witzen heute nicht mehr ganz so wegschmeiße wie vor zehn Jahren, ist nicht wirklich ein Problem. Was zählt, ist dass die Setliste geil war und der Sound ausgezeichnet. Dürfte wohl die zweitbeste Opeth-Show sein, ich meiner Lebtag gesehen habe.
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Die restlichen Bands auf meinem Tagesplan spielten wieder auf der Brennivín-Bühne, aber gegenüber des Egilsbúð-Hotels war ein Auto geparkt, das Freunden von mir gehörte und vollgeladen war mit – wer hätte das gedacht? – Alkohol. Diese Kombination der Umstände führte zu einer ziemlich langen Pause, bevor wir endlich hineingingen, um Auðn zu sehen. Im vergangenen Jahr hatten sie auf der Hauptbühne gespielt, und es ist schwer zu sagen, was besser zu ihnen passte, die Intimität der kleineren Lokalität oder die dramatische Lightshow der großen. Jedenfalls legten sie einen beeindruckenden Gig hin, der nicht nur Material vom letzten Jahr erschienenen, ausgezeichneten Debütalbum enthielt, sondern auch drei neue Songs. Bin schon sehr gespannt auf die nächste Veröffentlichung…
Auðn – Weitere Fotos hier
Nach Auðn kamen noch drei weitere Bands: Ophidian I um 00:30 Uhr, Sinmara um 01:25 Uhr und Severed um 02:25 Uhr. Ich übernehme diese Angaben jetzt einfach aus dem offiziellen Zeitplan unter der Annahme, dass sie so ungefähr hinkommen, denn obwohl wir uns alle drei Gruppen angeschauten und ich sie sogar fotografierte, sind meine Erinnerungen noch verwackelter als die dabei herausgekommenen Bilder. Musik gut, Bier gut, Hirnspeicher schlecht. Was ich aber auf alle Fälle noch weiß, ist, dass ich seit ewigen Zeiten nicht mehr so viel Spaß hatte, und obwohl ich ohne Zweifel den Schlafsack anvisierte, als ich mich um vier Uhr morgens auf den Campingplatz schleppte, vergingen noch rund vier Stunden, bis dieses Vorhaben Realität wurde. Und noch eines, was ich nach diesem Wochenende mit absoluter Sicherheit behaupten kann: wenn du mit einem Chor von FreundInnen und neuen Bekannten aus vollem Hals „Bohemian Rhapsody“ singst, während die Morgensonne sich gerade über die Bergkante bemüht, dann herzlichen Glückwunsch – deine Campingplatzfete hat soeben epische Dimensionen erreicht.
Alle Bilder (c) Tina Solda – Mehr Bandfotos hier
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