Blind Guardian Twilight Orchestra: E-Gitarren stören nicht!
Es war eine schwere Geburt! Aber nun endlich, seit November, ist das langerwartete Blind Guardian Orchester Album „Legacy of the Dark Lands“ erhältlich – nach fast zwei Dekaden Vorbereitung dafür. Grund genug einmal bei Hansi Kürsch, einem der beiden kreativen Köpfe der Ban, durchzuklingeln und ihn auf den Zahn zu fühlen.
„Hey, Hans Kürsch von Blind Guardian hier!“ kommt es fröhlich aus dem Telefon.
Hansi, schön dass du anrufst. Herzlichen Glückwunsch zu einem sehr guten neuen Album! Gefällt mir sehr gut!
„Was mich sehr freut!“
Ich denke, dass „Legacy of the Dark Lands“ das Album war, auf das Fans und Band am längsten warten mussten, oder?
„Ich denke, dass wir mit dem Album grundsätzlich bei der Wartezeit sehr weit vorne sind. Ich kenne keine andere Band, die genauso lange für ein Album braucht. Es war eine lange Zeit, was nicht so vorgesehen und auch nicht abzusehen war.“
Ich habe zum ersten Mal von euren Plänen, ein Orchester Album zu veröffentlichen gehört, als wir beide ein Interview im Rahmen der Veröffentlichung von „A Twist in the Myth“ geführt haben.
„Ich habe damals tatsächlich gedacht, dass wir unmittelbar vor den Aufnahmen stehen und alles zu einem zügigen Ende führen. Auch zu der Zeit haben wir schon bereits über zehn Jahre an dem Album gearbeitet. Wir haben uns aber dann zunächst dazu entschieden, ein weiteres reguläres Album zu veröffentlichen und noch weitere Songs für das Orchester-Album zu schreiben. Vier Jahre später kam dann ‚At the Edge of Time‘ heraus. Zu der Zeit haben wir erst ein Orchester gefunden, mit dem wir arbeiten wollten. Als wir beide 2006 miteinander gesprochen haben, waren wir gefühlt sehr nah dran, aber die Zeit war tatsächlich noch notwendig.“
Welches Gefühl überwiegt jetzt bei dir, wenn du dir das fertige Produkt anschaust?
„Es sind zwei. Zum einen absolute Zufriedenheit, da wir das erreicht haben, was wir uns ursprünglich mal zum Ziel gesetzt haben, auch wenn es mit viel Schweiß und Blut verbunden war. Wir waren in der Lage, das professionell umzusetzen, was wir uns seit Ende der 90er visionär vorgestellt haben. Auf der anderen Seite bin ich erleichtert, dass wir das Ding endlich zu einem Ende gebracht haben. Auch für mich fühlte es sich wie eine unendliche Geschichte an.“
Skizziere doch bitte einmal den ungefähren zeitlichen Ablauf der Songentstehung!
„Ich kann dir ganz grobe Zeiten sagen, wobei viele Songs über einen sehr langen Zeitraum gereift sind. Wir haben zu Zeiten der Produktion von ‚Nightfall in Middle-Earth‘ mit der ersten Komposition angefangen. Das war 1996 oder 1997, da streiten André und ich uns drüber. André hat damals einen reinen Orchester-Song komponiert, zudem ihm eher musicalartige Gesänge vorschwebten. Mir kam das sehr entgegen, da ich sehr großer Fan von ‚Jesus Christ Superstar‘ bin. Meine erste Gesangsidee ging dann in Richtung von Pink Floyds ‚The Wall‘, was André aber nicht zusagte. Dann habe ich das überarbeitet und bin eher in die Fantasy-Richtung gegangen. Der Song war ‚This Storm‘, der damals allerdings ‚Gondor‘ hieß. Wir waren damals im Tolkien-Fieber noch und nöcher. Der Song, der heute auf dem Album ist, blieb tatsächlich aus der damaligen Zeit zu ca. 90% erhalten. Richtig fertig, zumindest mit einem programmierten Orchester, war der Song dann 2009. Der Song gehörte dann auch zu den ersten, die wir im Rahmen der ‚At the Edge of Time‘-Produktion in Prag mit einem Orchester aufgenommen haben.
Im gleichen Zeitraum haben wir ‚Dark Cloud’s Rising‘ komponiert. Der Song war also zu Zeiten von ‚Nightfall in Middle-Earth‘ schon fertig, allerdings haben wir uns dagegen entschieden, den Song mit auf das Album zu nehmen, da wir ihn puristisch ohne Band belassen wollten. So ist dann damals auch die Idee des Orchesteralbums entstanden.
Wir sind dann an das Songwriting für ‚A Night at the Opera‘ gegangen. Zu der Zeit war die Entscheidung, dass wir irgendwann ein Orchesteralbum veröffentlichen wollen, bereits gefallen und wir haben es erstmals nach außen kommuniziert. Der nächste Song, der uns sehr lange beschäftigt hat, war ‚In the Underworld‘.
In der Phase zwischen ‚A Night at the Opera‘ und ‚A Twist in the Myth‘ sind dann eine ganze Menge Songs entstanden. Es sind auch einige Songs entstanden, die nicht auf dem Album gelandet sind und die wir für eine spätere Veröffentlichung zurückgehalten haben. In der Zeit haben wir ‚The Great Ordeal‘, ‚In the Red Dwarf’s Tower‘, ‚Treason‘ und ‚Point of No Return‘ angefangen, auch wenn viele davon erst später fertig geworden sind. In der Phase zwischen ‚At the Edge of Time‘ und ‚Beyond the Red Mirror‘ sind dann eigentlich alle anderen Songs entstanden, wobei ich dir nicht mehr sagen kann in welcher Reihenfolge. ‚Beyond the Wall‘ ist tatsächlich erst während der Produktion entstanden und auch aufgenommen worden, genauso wie die Ouvertüre ‚1618‘.
Die Hörspielsequenzen sind dann im März diesen Jahres aufgenommen worden. Wir hatten durch die Zusammenarbeit mit Markus Heitz einen Rahmen vorgegeben und schon relative gute Vorstellungen, was mit Nicolas passieren würde und dass auch die Reiter der Apokalypse eine Rolle spielen würden. Die Hörspielsequenzen haben wir dann genutzt, um die einzelnen Songs inhaltlich zu verknüpfen. Wir wollten hier aber auch den Kreis zu ‚Nightfall…‘ schließen, da wir dieses Mal mit den gleichen Hörspielakteuren gearbeitet haben wie damals. Ein paar sind zwar noch dazu gekommen, aber Douglas Fielding und Norman Eshley, die auch schon auf ‚Nightfall…‘ vertreten waren, haben das Gros der Hörspielsequenzen verwirklicht.“
Warum habt ihr euch gegen ein Tolkien-Konzept und für eine Zusammenarbeit mit Markus Heitz entschieden? Und wie kam es dann schließlich zu der Zusammenarbeit?
„Gegen Ende des Songwritings war mir klar, dass ich von Tolkien weg wollte. Zum einen waren wir in der Welt nicht mehr so sehr unterwegs, zum anderen fand ich aber auch, dass das Thema durch die Filme und die Soundtracks abgenudelt war. Wir wollten ursprünglich mal einen Soundtrack zu einem Film machen, den es nicht gab. Jetzt gibt es aber die Filme und ihre Soundtracks und deswegen haben wir umgedacht.
Markus Heitz habe ich gewählt, weil ich sein Zwergen-Universum extrem spannend finde. Als wir uns zusammengesetzt haben, war aber schnell klar, dass wir nicht in diese Richtung gehen, sondern etwas mit dem 30-Jährigen Krieg machen wollen. Im weiteren Verlauf kamen wir dann auf die apokalyptischen Reiter.
Markus ist einer meiner Lieblingsautoren und war deshalb meine erste Wahl. Als ich ihn kontaktiert habe, outete er sich als bekennender Blind Guardian-Fan. Einer Kooperation stand also nichts im Wege.“
Die Songs sind über eine langen Zeitraum entstanden, wobei das Thema erst sehr spät feststand. Wie seid ihr vorgegangen, dass sich die Songs stimmig in das Konzept eingefügt haben?
„Das war relativ einfach. Unser Ansatz war, dass die Musik die konzeptionelle Führung der Geschichte übernehmen sollte. Ich hatte als Sänger und Mitkomponist alle Freiräume, so in die Geschichte einzugreifen, dass es passt. Es gab natürlich die ein oder andere Klippe, die wir umschiffen mussten, aber eigentlich war es einfach. Für Markus war es hingegen deutlich schwieriger, sich auf Musik einzulassen, die bereits kreiert worden war. Wir haben ihm viele Freiräume gegeben und ihn auch früh bereits in die Musik eingeweiht, sodass er immer im Bilde war. Am Schluss war es dann eine Art Pingpong-Spiel, indem wir uns wieder aufeinander zubewegt haben. Das hat allerdings dazu geführt, dass wir – wie kann es anders sein – unseren Zeitplan nicht halten konnten und Markus irgendwann in der Bredouille war, ein Buch veröffentlichen zu müssen. Der Rahmen der Geschichte stand da allerdings schon fest und Markus hat dann sozusagen die Vorgeschichte zu ‚Legacy of the Dark Lands‘ geliefert.“
Eure Mitmusiker Marcus und Fredrik waren in das Porjekt nicht involviert. Warum habt ihr euch dagegen entschieden, übliche Rock / Metal-Instrumente in die Songs einzubauen?
„Die beiden Hauptgründe sind schnell genannt: Wir haben von Anfang an ohne Metal-Instrumente komponiert und fanden es von Anfang an spannend und stark genug. Wir haben deshalb beschlossen, es so zu veröffentlichen. Der zweite Grund ist noch naheliegender: Es wäre sonst nichts Außergewöhnliches gewesen. Wir haben bei Blind Guardian zuletzt mehrfach eine Metalband mit einem Orchester verbunden, sodass der Reiz nicht mehr da war. Wir haben zwar immer mal wieder darüber gesprochen, sind aber schlussendlich bei dem ursprünglichen Konzept geblieben, weil es uns einfach gefallen hat.
Wir haben auch nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Klar ist es anders und sicherlich hätten wir auch die Band integrieren können und hätten dann eine progressive Metal-Platte gemacht. Es hätte sich dann aber kaum noch von dem unterschieden, was wir sonst so machen. Trotzdem sind wir mit ‚Legacy of the Dark Lands‘ im Blind Guardian-Universum unterwegs. Für uns hat es auch den Reiz ausgemacht, ein Album zu veröffentlichen, das sich nach Blind Guardian anhört, bei dem aber keine Band spielt.“
Aber ihr habt in ‚Dark Cloud’s Rising‘ eine E-Gitarre reingemogelt…
„Haha! Jein! Die ist im Laufe der Kompositionsphase mal rein programmiert worden. Damals haben wir noch überlegt, ob wir die Band involvieren. Danach haben wir sie nicht mehr rausgenommen und es ist uns erst beim Mix wieder aufgefallen. Kein Scherz! Wir haben dann überlegt, sie wieder rauszunehmen, haben uns aber dagegen entschieden, da sie zum einen nicht gestört hat und wir sie zum anderen gar nicht mehr wahrgenommen haben. Aber ja, es ist eine Rhythmus-Gitarre drin, wenn auch eine programmierte. Da waren wir dann etwas inkonsequent, aber das muss auch mal okay sein.“
Wo siehst du für ‚Legacy…‘ eine Zielgruppe, mal abgesehen von Die Hard Blind Guardian-Fans?
„Ich persönlich bin in den 70er und 80er Jahren mit einer großen Bandbreite an Musik aufgewachsen und fand alles spannend, was exotisch oder skurril war, egal ob klassisch oder jazzig. Alle Experimente von renommierten Künstlern haben mich interessiert und ich denke nicht, dass ich da ein Einzelfall bin. Deshalb ist das Album sicherlich an interessierte Musikhörer adressiert und jeder, der offene Ohren hat, könnte es interessant finden, auch wenn es sicherlich nicht jedermanns Musikgeschmack ist. Diese Melange hat es so noch nicht gegeben und deshalb hoffe ich, dass interessierte Musikhörer hier aufhorchen werden. Sicherlich spricht die Art des heutigen Musikkonsums etwas dagegen, da viele doch sehr eingefahren sind. Vor 10 oder 15 Jahren wären viele Hörer sicherlich noch offener für solche Experimente gewesen, heute nimmt man lieber das, was man kennt. Außerdem könnte sicherlich jeder, der auf Soundtrack-Musik steht, Interesse an dem Album haben – Gesang hin oder her.
Der Abschluss-Song ‚Beyond the Wall‘ startet mit einem Spoken Words Part. Ich rätsle noch: Bist du das oder jemand anders?
„Das bin ich. Die Spoken Word-Parts in ‚In the Underworld‘ und ‚In the Red Dwarf’s Tower‘ sind von anderen Künstlern. Die Hörspielsequenzen haben viele Flüsterstimmen, die von Charly Bauerfeind, unserem Produzenten, Tommy Geiger und mir stammen. Geisterstimmen und ähnliches.“
Eine letzte Frage zu „Legacy…“: Welche Pläne habt ihr hinsichtlich einer Liveumsetzung?
„Wir loten das gerade aus. An erster Stelle steht jetzt zunächst mal das nächste reguläre Blind Guardian-Album. Wir fangen Anfang 2020 mit der Produktion an, die aber sehr lange dauern wird. Es wird wieder sehr orchestral und aufwendig. Ich denke aber, dass wir Ende des Jahres 2020 mit der Produktion fertig sind und wir das Album im März 2021 ungefähr veröffentlichen können. Wir sind auf jeden Fall sehr bemüht, uns an diesen Zeitrahmen zu halten.
Unsere Idee ist Ende 2021 Liveshows mit dem Orchesterprojekt zu machen. Entweder gehen wir auf Tour in kleinere klassische Konzerthallen oder, was wahrscheinlicher ist, wir buchen eine große Halle hier in der Region für drei Tage, führen dort das Orchesterprojekt auf, vielleicht auch in Kombination mit einem Blind Guardian-Festival.
Wir haben auch die Idee, es ohne unser Zutun auf die Bühne zu bringen, eventuell indem wir es an andere lizensieren. Die Story ist gut, die Musik ist, denke ich, überragend und ich denke, wir könnten es deshalb ganz gut verkaufen.“
Was wäre mit einer Adaption des ein oder anderen Songs für eure klassische Bandbesetzung? Ihr spielt jetzt ja auch orchestrale Songs auf der Bühne.
„Ja, das wäre aber ein Langzeitprojekt, da wir die Musik und die Gesänge komplett überarbeiten müssten. Wenn wir das für das ganze Album machen, wird das sicherlich nochmal fünf Jahre dauern. Diskutiert haben wir das aber schon. Vielleicht suchen wir uns auch erstmal einen Song wie ‚Point of No Return‘ aus und probieren es erstmal damit und schauen wie das so live wirkt. Ich denke, das wäre ein ganz guter Ansatz.“
Final habe ich noch zwei Fragen abseits von „Legacy…“. Ihr habt mit Blind Guardian zuletzt ein Live-Album veröffentlicht. Was bei der Setlist auffällt ist, dass viele Songs bereits auf vorherigen Live-Veröffentlichungen vertreten sind. Auf der Tour habt ihr aber auch einige rare Songs gespielt, die hingegen nicht auf „Live Beyond the Spheres“ vertreten sind. Warum?
„Ja, das stimmt. Wir hatten die raren Songs nicht in der Masse wie die anderen Songs. Wir haben vor allem auf Qualität geachtet und haben deswegen Versionen gesucht, die uns in der Form zusagen. Wir wollten keine ‚Live in the Studio‘-Album machen, sondern ein authentisches Live-Album. Die Songs, die du ansprichst, z.B. ‚Guardian of the Blind‘, hatten wir in keiner Version, die für eine Live-Album ausreicht. Statt etwas Halbgares zu veröffentlichen wollten wir da auf Nummer sicher gehen. Aber du hast natürlich recht, einiges haben wir schon ein paar Mal live veröffentlicht. Trotzdem sind aber 45 Minuten Material dabei, die so das erste Mal live veröffentlicht wurden.“
In der näheren Vergangenheit habt ihr euch an dem Soundtrack zu dem Spiel „The Dwarves“ beteiligt, nachzuhören in dem Song ‚Children of the Smith‘. Es wird reichlich darüber spekuliert, ob es sich dabei um einen regulären Blind Guardian-Song handelt oder nicht. Bitte kläre das mal auf!
„Das ist ein Song, der mit starker Mithilfe von Marcus und mir entstanden ist. Die anderen Bandmitglieder waren da nicht involviert. Ich glaube, es wurde auch so kommuniziert, dass er ‚with members of Blind Guardian‘ entstand und keine reguläre Band-Veröffentlichung ist. Wir haben zwar mitgeholfen, aber ansonsten hat der Song nichts mit Blind Guardian zu tun. Der Song wird auch auf keinem Album landen.“
Vielen Dank für das Interview!
„Gerne!“
Interview: Timo Päßler, Fotos: Nuclear Blast Promo
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