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Häme Mittelalterfestival: Ein Fest für einen zeitlosen Romantiker

14-16. August 2020, Hämeenlinna, Finnland

Da ich aus Deutschland komme und hochkarätige Themen-Veranstaltungen auf renommierten gotischen Schlössern in ganz Europa, Geschichtsevents in Versailles und durchkostümierte märchenhafte Galabälle erlebt habe, muss ich zugeben, dass ich eher bescheidene Erwartungen vom Mittelalterfest in Häme hatte. Angesichts der aktuellen Ereignisse hat es mein Interesse geweckt, da Finnland im Gegensatz zu den meisten kontinentalen EU-Staaten nicht sofort alle öffentlichen Veranstaltungen bis 2021 verschoben hatte. Die Teilnahme an einem Live-Open-Air-Festival im August 2020 fühlte sich wie ein exquisiter Genuss für „wenige Privilegierte“ an. Wenige bedeutet in diesem Zusammenhang die Zehntausenden, die an diesem Wochenende in Häme auftauchten. Aber auf jeden Fall war ich bereits überzeugt bei „Veranstaltung läuft wie geplant, keine Absage“.

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Nun ist Hämeenlinna eine der ältesten, aber kleinen Städte im Binnenland von Südfinnland, welche dieses jährliche mittelalterliche Fest (Hämeen keskiaikafestivaali) in malerischer Lage am Wasserschloss ausrichtet. Es ist ein verstecktes Juwel, nur eine Zugstunde von der Hauptstadt entfernt. Der Unterschied diesmal, im Zusammenhang mit der weltweiten Pandemie, verglichen mit früher liegt im Bekanntheitsgrad der Bands und in der erhöhten Anzahl von Desinfektionsstationen rund um das Festivalgelände. Ansonsten gibt es keine Anzeichen für Probleme. Nach Monaten der Isolation, sehnen wir uns nicht alle nach dieser lange verlorenen utopischen „Normalität“ in irgendeiner Form? Das fand ich in Häme.

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Das Festival beeindruckte mich gleich am Eingang: Liebe zum Detail, nahezu in Perfektion, angefangen bei den Haupttoren, wo die Gäste von einem Zauberer und seinen magischen Helfern begrüßt werden. Das gesamte Personal ist in historisch angemessener (mittelalterlicher) Kleidung aus Leinen und passenden handgefertigten Accessoires gekleidet. Gleich am Eingang befindet sich ein großer Stand mit Kostümen zum Ausleihen, sodass all jene, die ohne gekommen sind, an Ort und Stelle in etwas Passenderes schlüpfen können. Welch ein Paradies, vor allem für die jüngeren Teilnehmer, hier ein echtes Erlebnis von Festen zu haben, wie sie vor einigen Jahrhunderten hätten stattfinden können. Um das Gefühl zu vergleichen: Es war, als würde man Efteling (NL) zum ersten Mal betreten, wenn man nicht weiß, was einen dort erwartet, aber man schwebt nur so dahin in der Vorfreude auf Magie und überall liegt Feenstaub in der Luft.

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Das Hauptfest beginnt mit dem Markt, endlosen Ständen mit allem Erdenklichen, von essbaren Waren bis hin zu handgefertigten Lederaccessoires, mehr Kleidung und mehr Lebensmittel und lokale Getränke. Da ich bereits viele ähnliche Veranstaltungen besucht habe und die Verkäufer in der Regel rotieren und die gleichen Waren führen, wird es schwer, etwas Neues und außer Honigmet in lustig geformten Flaschen zu finden. Aber in Häme habe ich nichts dergleichen erlebt.

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Kunsthandwerk als einzigartige handgefertigte Kuriositäten, neue Designs und eine realistische Annäherung an sehr authentisch aussehende mittelalterliche Accessoires. Es fesselte meine Aufmerksamkeit, und ich wollte nur herumlaufen und mir alles im Detail ansehen. Außerdem waren die Zelte und Stände selbst alle mit hoher historischer Genauigkeit gefertigt und aufgebaut. Das Taverna-Areal, der dominante Mittelpunkt des Festivals, mit Ess-Ständen, einer Auswahl an Bars und einer Bühne, beherbergte die Bands, die zum Tanz einluden. Optisch ein Fest für einen zeitlosen Romantiker, fühlst du dich völlig in eine andere Zeit teleportiert.

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Trotz der derzeitigen Einschränkungen hatte das Programm viel zu bieten und ich musste mich entscheiden, wo und was ich sehen und was ich im Gegenzug verpassen wollte. Das Festivalgelände erstreckte sich über ein großes Gebiet, wo es allerlei zu entdecken gab. Unter den mittelalterlichen Kampfsportarten gab es Wikingerschlachten und Ritterkämpfe. Der einzige Nachteil dabei war die Zeit: Die ersten Turniere begannen bereits um 10 Uhr morgens und es war bereits kochend heiß, keine Wolke am Himmel. Ich hatte nicht erwartet, mit einem Sonnenbrand aus Finnland zurückzukommen!

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Auch wenn wir in der jüngsten Vergangenheit verwöhnt wurden mit Veröffentlichungen zum Thema „Wikinger“, ihre Schlachten hatten im Vergleich zum Ritterturnier leider bei weitem nicht so viel Interesse und Teilnehmer. Beides überschnitt sich, so dass ich mich zwischen den beiden Arenen hin- und hergerissen fühlte, aber die Ritter gewannen meine Aufmerksamkeit. Es ist ein aufstrebender Vollkontakt-Kampfsport, genannt Buhurt (von französisch „bouhourt“), bei dem Männer und Frauen in authentischer mittelalterlicher Ganzkörper-Rüstung mit ebenso authentischen Handwaffen (aus Sicherheitsgründen abgestumpft) gegeneinander kämpfen. Die Kämpfe können so persönlich sein wie 1 gegen 1 oder 3 gegen 3 bis hin zum epischsten von allen, 150 gegen 150 (eine Weltmeisterschaft, die jährlich bei der Völkerschlacht, der „Olympiade“ des Sports, stattfindet). Obwohl ich normalerweise kein begeisterter Sportzuschauer bin, haben mich diese Kämpfe überzeugt – und wie. Ich vergaß zu blinzeln oder zu atmen, während ich zusah. Rüstungen mit feinen Details und wunderschöner Verarbeitung, die originalgetreu und optimal eingesetzt werden. Keine Rüstung gleicht der anderen, und jedes Stück wird für jeden einzelnen Kämpfer persönlich angefertigt. Die Kämpfe selbst sind emotional und rasant, sodass man innerhalb weniger Minuten an Action all damenhaftes Verhalten verliert, seufzt und jubelt und die Lieblingsmannschaft schreiend anfeuert. Ich bin überrascht, dass dieser Sport noch keine größere Fangemeinde gefunden hat.

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Apropos attraktive Action in Rüstung: Später in der Nacht, nach Sonnenuntergang, bot das Festival tatsächlich eine weitere visuelle Schönheit – Feuerjongleure und eine Pferdeshow. Dafür war eine zusätzliche Eintrittskarte erforderlich und wir danken den Organisatoren für die Unterstützung unserer Journalisten beim Zugang zur Show. Die Veranstaltung wurde im Innenhof des Schlosses abgehalten, ohne zugewiesene Sitzplätze, aber mit grünen Ballen, wo wir glücklicherweise einen guten Beobachtungsplatz mit perfekter Übersicht fanden. Sehr authentische Atmosphäre inmitten der Schlossmauern, sternenklare Nacht und der Geruch verbrannter Fackeln in der Luft, nur der Met fehlte. Irgendwie ging mir diesmal der Reiz des Mettrinkens verloren, aber ich holte das später mit meinem Apfelwein und lokalen Biersorten nach.

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Die Pferdeshow (von Rohan Stables) war ein wunderschöner Anblick, beleuchtet von Feuer, untermalt von wunderschönem Soundtrack und Spezialeffekten. Tolle Kostüme und eine gut geschriebene Handlung, um die aufwendige Geschichte zu illustrieren. Sie erzählte uns von tragisch getrennten Geschwistern, die aber zu einem späteren Zeitpunkt durch Anstrengung, Suche und Kampf wieder vereint wurden. Nun gab es auch Ritter in Rüstungen, aber diesmal auf Pferden und mit Lanzen und Speeren bewaffnet. Die Erzählung war auf Finnisch, so dass ich ihr nicht buchstabengetreu folgen konnte, aber die visuelle Darstellung und die perfekte Pferdeshow waren erstaunlich anzusehen und absolut bewundernswert, unabhängig von Untertiteln. Danach gesellten sich alle Darsteller zum Publikum, um mit ihren hufenden Begleitern zu posieren.

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Dieses Festival eroberte mein Herz. Manchmal fühlen sich solche Veranstaltungen wie eine große, lustige Party an, aber dies war eher wie eine außerweltliche Erfahrung, wie ein Märchen für Erwachsene. Dieses Festival kann definitiv mehr Aufmerksamkeit vertragen, und ich wünsche mir, dass es jedes Jahr mehr Besuche erhält. Ich hoffe, dass ich dieses versteckte Juwel des mittelalterlichen Kalenders mitten im europäischen Sommer nie wieder verpasse. Zumal schon das Programm so einzigartig ist im Vergleich zu dem, was inzwischen als üblich gilt, zumindest in den Niederlanden und in Deutschland. Sicherlich würde es von einem Kostümumzug oder einem Kostümwettbewerb profitieren, aber die Authentizität und die Liebe zum Detail hier in Häme fand ich besonders wertvoll.

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Auf unserem Weg nach draußen, nach der Vorstellung, gingen wir weiter durch ein Märchen. Und ich weiß nicht, wie es dem Organisationsteam gelungen ist, das GESAMTE Festgelände in diesen magischen Ort zu verwandeln. Einer der Hauptsponsoren des Festivals war ein Kerzenhersteller, und so waren alle Wege mit brennenden Glaskerzen ausgekleidet, die in der Nacht flackerten. Wir folgten ihnen, um den Weg nach draußen zu finden, und stolperten dann in einen Teil des Festivals, wo ein Teil der hohen Bäume und Büsche mit flackernden Lichtern, Kerzen und winzigen LEDs bekleidet war, um etwas aus der Illustration von Cicely Mary Baker zu erschaffen. Ein Teil des Geländes lädt dazu ein, sich umzublicken und vorsichtig weiterzugehen, um nicht über einen Kobold oder Zwerg zu laufen, und auf das Waldvolk zu achten. Und da ist es, ein Wesen in langen, fließenden Gewändern, das seine Arme nach dir ausstreckt. Und als Kopf und Gesicht hat es einen Elchschädel mit einem vollen Satz wunderschöner, ineinander verschlungener Geweihe. Es hat schwarze Löcher als Augen, aber du fühlst dich beobachtet und magisch angezogen. Du bewegst dich wie in Zeitlupe, um das Feenvolk nicht zu stören, und doch willst du jede Sekunde davon und jeden Anblick davon einfangen. Der Weg ist völlig vernebelt und scheint langsam weiter zu kriechen raus aus dem Blickfeld, du schwebst nahezu und wirst sofort in diesen ätherischen Märchenwald transportiert, in dem du dich für immer verlieren möchtest. In der Luft – der Geruch von verbranntem Holz von all den frischen Leckereien, die den ganzen Tag lang gekocht wurden. In den Ohren – Musik und Geräusche aus der Ferne, von den spätabendlichen Bands, die noch in der Ferne spielen. Magie ist allgegenwärtig, und du willst nicht, dass diese Nacht jemals endet.

Meine Fahrt zurück in die Realität war surreal und schwierig, und alles, woran ich denken konnte, war: Wo war ich in den letzten Stunden, habe ich mir das alles nur eingebildet?

Details über das Festival und das 2020 Programm

Journalist – Marina Minkler
Photographer – Askar Ibragimov  https://askaribragimov.com/

GastmitarbeiterInnen / guest contributions

Reguläre GastmitarbeiterInnen u.a. Melanie Kircher, Tatjana Tattis Murschel, Grit Kabiersch, Marina Minkler, Maria Levin, Jasmine Frey, Nina Ratavaara, Elvira Visser, John Wisniewski