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Anathema / Von Hertzen Brothers

27.9.2012  The Circus, Helsinki

Zwei Bands mit je drei Brüdern im Doppelpack hat man selten, erst recht von diesem Kaliber: die Anheizer für die beiden Anathema-Gigs in Finnland waren die einheimischen Von Hertzen Brothers, deren vielseitiger Progrock seit einiger Zeit auch im Ausland zunehmend Beachtung findet. Ihr unverkennbarer Stil passt bestens zur heutigen Richtung von Anathema, sodass mir das Billing ausgesprochen zusagte. Die Zeit reichte freilich nur für fünf (wenngleich recht lange) Songs, und gerade als die Jungs einigermaßen in Schwung gekommen war und die Aufmerksamkeit des Publikums auf ihrer Seite hatten, mussten sie schon wieder von der Bühne. Etwas problematisch war, dass die ersten drei Songs – „I Believe“, „Angel Eyes“ und „Always Been Right“ – allesamt vom neuesten Album stammten, das beileibe nicht schlecht ist, aber beim besten Willen nicht an seine beiden Vorgänger herankommt. Die wurden dann zwar glücklicherweise auch noch mit jeweils einem Stück berücksichtigt, aber auch „Kiss A Wish“ und „Willing Victim“ gelang es dann nicht mehr, die Euphorie heraufzubeschwören, die ich von den Headliner-Gigs der Hertzen-Brüder her kenne.

Anathema legten mit „Untouchable“ (Part 1 & 2) los, dem ergreifend schönen Songpaar, das die diesjährige LP Weather Systems einleitet. Eine wegweisende Eröffnung, denn zwei Drittel des Hauptsets plus eine der Zugaben stammten von den beiden neuesten Alben. Unter diesen finde ich die neue Scheibe deutlich zugänglicher, und mein Eindruck wurde im Live-Kontext bestätigt. Die nächsten vier Songs waren allesamt vom ruhigeren Album We´re here because we´re here (2010), und es erschien nicht überraschend, dass das Publikum sich eher verhalten zeigte. Im Kontrast dazu bewies die enthusiastische Reaktion auf die ersten Akkorde von „Deep“, dass Judgement (1999) nach wie vor ein Favorit im Gesamtwerk von Anathema ist. Eine weitere Perle vom selben Album folgte sogleich, das fantastische „Emotional Winter“ – vom langsamen Synthie-/Gitarrenintro bis zu Danny Cavanaghs perfektem Outro-Gitarrensolo fast zehn Minuten später war dieser Song einer der dramatischen Höhepunkte des Konzerts. „A Simple Mistake“ war den Von Hertzen Brothers gewidmet, und die Nummer hat in der Tat ein gewisses VHB-Feeling.

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Danach war wieder Weather Systems mit drei Stücken an der Reihe, angefangen mit „Lightning Song“. Ein Musterbeispiel dafür, warum die Aufnehme von Lee Douglas als vollwertiges Bandmitglied vor ein paar Jahren eine gute Entscheidung war; ihre Stimme ist im Laufe der Zeit ein immer wichtigeres Element des musikalischen Universums von Anathema geworden, verdienterweise. Auf der Bühne klingt der Song noch besser als auf Platte, und auch beim Publikum schlug er auf Anhieb ein. Deutlich mehr als die beiden nächsten, die andererseits aber auch keinen nennenswerten Einbruch der Stimmung mit sich brachten. Selbige war zu diesem Zeitpunkt auf dem für Anathema gewohnten hohen Level angelangt, was sich auch für den Rest des Abends nicht mehr ändern sollte. Vor „The Beginning And The End“ stellte Vinnie Cavanagh Keyboarder Daniel Cardoso vor und betonte dessen immense musikalische Vielseitigkeit, „but anyway he´s human – we made a DVD in Bulgaria the other day and he made a total fuck out of this song“. Meine bei jener Show anwesenden Bekannten bemerkten freilich keine hörbaren Pfuscher; besagtes Konzert fand mit voller Orchesterbegleitung in einem römischen Amphitheater statt und dürfte in einer sehenswerten DVD resultieren.

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„Universal“ war die letzte – und augenscheinlich populärste – Kostprobe von We´re here…für diesen Abend, gefolgt von einer Runde Leckerbissen von A Natural Disaster (2003). Auf das mitreißende „Closer“ folgte das Titelstück, das meinem Eyeliner mal wieder gar nicht gut tat. Abgerundet wurde das Trio durch „Flying“, und ich fühlte mich erneut in meiner Vorliebe für dieses großartige Album bestätigt. Womit ich wahrhaftig nichts gegen das neue gesagt heben will, zu dem die Band nach einer kurzen Pause mit „Internal Landscapes“ zurückkehrte, der ersten von fünf Zugaben. Die mit dem bewegenden Bericht einer Nahtoderfahrung (aus einem authentischen Dokumentarinterview entliehen) beginnende Ballade steigerte sich zu einer emotionalen Klimax in Form eines weiteren tollen Duetts von Lee und Vinnie, bevor im Outro wieder die Erzählerstimme vom Band erklang – „I was peace, I was love, I was the brightness, it was a part of me“. Den Spannungsbogen wahrend, spielte Danny danach kurz das Intro von Pink Floyds „Shine On You Crazy Diamond“ an, das nahtlos in ein herzergreifendes „Fragile Dreams“ überging.

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Als ich gerade dachte, das wär´s gewesen, verkündete Vinnie, dass er und die Band noch keine Lust hätten, von der Bühne zu gehen – „we want to give you your money´s worth! Here´s a song from our childhood…“ – und wir zu unserer Überraschung Anathemas selten gespielte Coverversion von Metallicas „Orion“ auf die Ohren bekamen. Statt Bassist Jamie stand auch hier wieder eher dessen Bruder Danny im Mittelpunkt, aber wen stört´s – Hauptsache, Anathema erinnern sich gelegentlich an ihre metallischen Wurzeln. Den endgültigen Abschluss bildeten „Panic“ und „Empty“; letzteres steigerte sich zu einem furiosen Finale, bis die Show nach annähernd zweieinhalb Stunden – nicht ganz so lang, aber auch nicht wesentlich kürzer als der Gig im Tavastia vor auf den Tag genau zwei Jahren – dann wirklich vorbei war. Während des Outros machten die Jungs auf der Bühne Faxen, fotografierten und filmten das Publikum, und als ich eine knappe halbe Stunde später den Club verließ, saßen sie am Merchstand, unterhielten sich mit Fans und gaben Autogramme. So eine Arbeitsmoral sieht man heutzutage selten, schon gar nicht bei einheimischen Bands dieses Kalibers. Gut zu wissen, dass auf Anathema nach wie vor Verlass ist – in Bezug auf Quantität ebenso wie auf Qualität.

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Setlist:
1. Untouchable, Part 1
2. Untouchable, Part 2
3. Thin Air
4. Dreaming Light
5. Everything
6. Angels Walk Among Us
7. Deep
8. Emotional Winter
9. A Simple Mistake
10. Lightning Song
11. The Storm Before the Calm
12. The Beginning and the End
13. Universal
14. Closer
15. A Natural Disaster
16. Flying

Encore:
17. Internal Landscapes
18. Fragile Dreams
19. Orion
20. Panic
21. Empty

Tina Solda

tina@stalker-magazine.rocks - Konzert- und Festivalberichte, Fotos, Interviews - - - Bevorzugte Musikrichtungen: melancholischer Death-, unkonventioneller Black-, melodischer Doom-, dramatischer Folk- und intelligenter Paganmetal (Schwerpunktregionen: Island, Finnland & Norwegen) - - - Sonstige Interessen: Gitarre, Bücher, Bier, Kino, Katzen.